Umgang mit Demenz: Nicht die eigene Realität aufzwängen

„Soll ich dem Fotografen die Zunge rausstrecken, Wuschel?“, fragt Ursula Tetzner ihren Teddybären, „ich würde ihm so gerne die Zunge rausstrecken…“ Von ihrem Sessel im Wohnzimmer sieht die 84-jährige ehemalige Textilingenieurin auf die Alpen. Dorthin ging sie mit ihrem Mann Herbert zum Wandern, doch seit dessen Tod verlässt sie den geräumigen Bungalow nur selten. Auf dem Wohnzimmertisch stehen gerahmte Schwarzweiß-Fotos: ein Mann in Uniform, Ehemann Herbert, und ein jüngerer Mann – der Sohn? Sie kann sich nicht erinnern: „Muss ich denn alles wissen?“, entgegnet sie vorwurfsvoll und wendet sich sogleich wieder ihrem Schmusetier zu.

Die Johanniter kommen jeden Tag, machen Grundpflege und messen Blutdruck, so wie heute Schwester Evangelia. Und einmal im Monat fahren sie mit Frau Tetzner zur Demenzgruppe. Dann trifft sie in der Kaufbeurener Geschäftsstelle andere Menschen, die wie sie immer mehr vergessen und immer weniger erinnern. Betreut von zwei haupt- und drei ehrenamtlichen Johannitern spielen die acht Demenzkranken Domino, Memory oder Karten. Bei einer Gedächtnisübung fragt Schwester Maria Sprichwörter ab: „Der Apfel fällt nicht weit vom…?“ oder „Reden ist Silber, Schweigen ist…?“ Dazu gibt es Sandkuchen und verdünnten Kaffee. „Wichtig ist immer, dass man sich auf die Stufe des Erkrankten begibt, sich in seine Welt einfindet und ihm nicht die eigene Realität aufzwingt“, sagt Dienststellenleiterin Petra Heckel, 27, „sonst wenden sich die Betroffenen ab.“ Wenn zum Beispiel ein Demenzkranker die eigene Mutter suche, solle man nicht die Wahrheit (dass sie bereits verstorben ist) aussprechen, sondern mit dem Kranken über die Mutter sprechen. „Oft reicht die Beschäftigung mit dem Thema schon, um den ursprünglichen Wunsch zu befriedigen“, so die Krankenschwester und Dipl.-Pflegewirtin. Um die Furcht vor der Krankheit abzubauen und den richtigen Umgang mit Demenzkranken zu zeigen, bieten die Johanniter in Kaufbeuren Seminare an. In 50 Unterrichtsstunden wird u.a. gelehrt, was Demenz überhaupt bedeutet, wie das Krankheitsbild aussieht und wie man den richtigen Zugang zum Demenzkranken findet. Ein weiteres Mitglied der Demenzgruppe ist Dora Walter, 83. „Mich besucht keiner“, sagt Frau Walter mit großer Überzeugung, „kein einziger.“ Tatsächlich beweist die Pflegedokumentation, dass die Johanniter täglich zweimal zu ihr kommen, morgens und abends, um nach dem Rechten zu sehen und Frau Walter ihre Tabletten zu geben. Vergessen kann ungnädig sein und so wird die Arbeit der Johanniter nicht immer gewürdigt. Die ehemalige Verkäuferin Walter kocht ihr Mittagessen selbst, heute Kartoffeln, Kraut und Geschwollene – eine Allgäuer Wurstspezialität. Monatelang hat sie ihren Mann Rudolf zuhause gepflegt – bis zu seinem Tod vor zwei Jahren. Jetzt lebt sie allein in einem Mehrfamilienhaus mit Wellensittich „Kucki“. Die Einsamkeit ist in den Augen von Schwester Maria das größte Problem alter Menschen, dement oder nicht: „Wenn ich meine Patienten bei der Abendrunde frage ‚Was haben’s gemacht heut‘, dann sagen sie: ‚Auf sie gewartet‘.“ Immer wieder bitten sie: „Mei Schwester, bleiben‘s doch do“, aber dafür ist keine Zeit, denn der nächste wartet schon auf ein bisschen menschlichen Kontakt. Wichtig im Umgang mit Demenzerkrankten ist es, ihnen nicht die eigene Realität aufzwingen zu wollen. Man müsse erspüren, was sie eigentlich ausdrücken wollen, meint die erfahrene Schwester, statt die Betroffenen mit einem beiläufigen „Ja-ja“ ruhig stellen zu wollen. „Jeder“, sagt sie, „auch ein Mensch mit Demenz, will ernst genommen werden.“ Oliver Numrich

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