Neue Herausforderungen: Wie Best Ager Gefangenen, Krimilesern und Existenzgründern auf die Sprünge helfen

Die Alten werden immer jünger! Wer heute in Rente geht ist noch längst kein Rentner, der sich aufs Altenteil zurückzieht, sondern hat Power und Lust auf neue Herausforderungen! Immer mehr Unternehmen und Organisationen erkennen dieses Potential und umgarnen die so genannten Best Ager. Ihr Engagement ist gefragt, denn neben Zeit und Erfahrung bringen sie etwas mit, das denen, die noch mitten im Berufsleben stecken, am meisten: Gelassenheit.
Auf über zwei Kilometer Bücherregal verteilen sich die 70.000 Bücher aus zwei Jahrhunderten, darunter zahlreiche Erstveröffentlichungen und Raritäten, die der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski gesammelt hat. Doch Barbara Seel interessiert sich nur für Mord und Totschlag: Sie archiviert die rund 6.000 Krimis dieser Sammlung, die seit 2002 dem Land Berlin gehört. Dass Seel ursprünglich aus dem Norden kommt, merkt man sofort: Blonde Haare, große blaue Augen, ein hauchzarter Akzent und dazu hanseatische Herzlichkeit. Doch Lübeck liegt schon weit zurück:1968, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen, kommt sie von dort nach Westberlin – wegen der Liebe und nicht wegen der Revolution. Beides war nicht von Dauer. Die Diplombibliothekarin arbeitet zunächst in der Werksbücherei von Siemens – ja, das Unternehmen leistete sich damals noch eine eigene Bibliothek!, um danach eine Zweigstelle der Stadtbibliothek Tiergarten, später Mitte, zu leiten. „Nach 34 Berufsjahren kann ich sagen, dass ich gut war in meinem Fach.“ Dass sie in ihrem Ruhestand wieder in einer Bibliothek sitzen sollte, hätte sie sich allerdings nicht träumen lassen. Aber sie liebt nun mal Krimis und so hat sich die 63-Jährige darauf eingelassen, zweimal die Woche für sechs Stunden ehrenamtlich Krimis von Kuczynski zu katalogisieren, nachdem man sie ganz nett gefragt hat. „Ich wollte ja sowieso was machen. Jetzt ist es zwar berufsbezogen, aber vielleicht soll das ja so sein.“ Jeder könnte das auch nicht, denn Titelaufnahmen und Verschlagwortung funktionieren nach einem strengen Regelwerk. Da kommt ihr die Berufserfahrung gerade recht. Seel legt Wert darauf, dass ihr freiwilliger Dienst keine bezahlten Jobs gefährdet. Ehrenamtliche Arbeit müsse immer etwas besonders sein, eine zusätzliche Leistung, die die Bibliothek sonst nicht erbringen könnte, sagt sie sehr ernst. Im Moment ist sie bei den englischen Krimis aus den 1930-50er Jahren. Ich habe hier 100 Jahre alte Bücher in der Hand, die ganz anders gestaltete Einbände haben, ganz anders riechen als die Bücher heute. „Es ist spannend, wie viele Namen da schon aufgetaucht sind, die bei uns erst viel später bei uns bekannt geworden sind.“ Rund ein Zehntel aller Krimis hat sie bisher für das Internet recherchierbar gemacht, erzählt sie mit deutlich vernehmbarem Stolz. „Man kann einem Nicht-Bibliothekar schwer verständlich machen, was das bedeutet, aber ich bin schon jetzt ganz angetan von meiner Leistung.“ An der Auskunft oder im normalen Besucherdienst macht sie allerdings nicht mehr mit. „Der Umgang mit Publikum hat mir lange Zeit sehr viel Spaß gemacht und war auch Anreiz, den Beruf zu wählen. Aber Gottseidank muss ich es nicht mehr machen.“ Klar könnte sie ihre Freizeit auch anders ausfüllen. Die Schönebergerin interessiert sich sehr für Kultur und geht häufig ins Theater. „Aber so etwas sinnvolles für das Gemeinwohl schaffen zu können, ist auch meine staatsbürgerliche Pflicht“, sagt sie, „wenn ich natürlich jeden Penny zweimal umdrehen müsste, dann könnte ich das nicht machen.“ Jeden Penny… Man merkt, dass sie in den englischen Romanen auch gerne mal blättert und ein paar Zeilen liest. Aber nur, stellt sie gleich klar, um Veränderungen im Stil zu prüfen, nicht etwa, um auf die letzte Seite zu schmulen, wer denn nun der Mörder ist. “Um in Krimis zu schmökern, brauche ich eigentlich eine gemütliche Umgebung“, entkräftet Seel jeden Verdacht, zumal beim Interview Abteilungsleiterin Annette Gerlach in Hörweite sitzt. „Sie hat ja kein Leistungssoll“, wirft sich die Abteilungsleiterin schützend vor ihre Freiwillige. Beide Seiten hätten das Privileg zu sagen, das haut nicht mehr hin, und dadurch sei kein Leistungsdruck da. „Ich arbeite hier ohne den Zwang, den eine Berufstätigkeit normalerweise mit sich bringt“, sagt Seel, „mit Verlässlichkeit, aber ohne große Verantwortung.“ Es sei einfach eine größere Leichtigkeit zu spüren, die sich auch positiv auf die Festangestellten auswirke. „Es ist eine Win-Win-Situation“, fügt Annette Gerlach hinzu und strahlt: „Endlich wird das mal aufgeschrieben!“

Der Business-Angels-Club ist von 26 auf 46 Mitglieder gewachsen
Mit Gewinnen nicht nur im übertragenen, sondern auch im fiskalischen Sinn beschäftigt sich Axel Gropp. Der ehemalige Manager der Ruhrkohle AG ist Gründer und erster Vorsitzender des Business Angels Clubs Berlin-Brandenburg. Seine 46 Mitglieder sind alle zu 100% ehrenamtlich tätig, sie unterstützen Existenzgründer und junge Unternehmer bei der Umsetzung ihrer Geschäftsideen und beteiligen sich auch finanziell an lohnenswerten Projekten – mittlerweile sind mehrere Millionen Euro in über 20 Unternehmen aus der Region geflossen. Vor seiner Pensionierung ist Gropp weltweit unterwegs, leitet Tochterfirmen der RAG in Libyen, Taiwan, China und den USA. Auf seiner letzten Station im kalifornischen Silicon Valley lernt er das „segensreiche Wirken“ der Business Angels kennen. „Ich hätte alle Fehler der Welt gemacht“, gibt er offen zu, „aber ich habe sie nicht gemacht, weil mich die Business Angels dort an die Hand genommen haben.“ Er fühlt sich fast schon wie ein Amerikaner, als in Berlin überraschend die Mauer fällt und das Heimweh sich meldet. „Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Deutschland und etwas zurückgeben von dem, was ich als Nehmender zuvor empfangen habe.“ Doch erst 1998 ist es soweit: Gropp wandert voller Euphorie aus nach Good Old Europe, zurück nach Berlin, wo er vor über 40 Jahren an der Freien Universität Betriebswirtschaftslehre studiert hatte. In Berlin gibt es zu dieser Zeit noch keine Business Angels, nur eine Anlaufstelle für Existenzgründer bei der Investitionsbank Berlin, die auch einen Businessplanwettbewerb durchführt. Hier findet Gropp in IBB-Vorstand Bernd-Peter Morgenroth einen Unterstützer für seine Idee, einen Manager-Hilfs-Club zu gründen. Morgenroth sorgt auch für die notwendige Infrastruktur und organisiert Räume und die Erstausstattung. Jährlich erreichen etwa 1000 Anfragen von Existenzgründern die IBB, von denen ein erklecklicher Teil an Gropps Truppe weitergeleitet wird. Alle ehrenamtlichen Manager müssen sich verpflichten, pro Jahr mindestens zwei Gründerfirmen zu coachen, nur so ist die große Nachfrage zu bewältigen. Auch Pensionär Gropp ist jetzt mindestens zwölf Tage im Monat als „rettender Engel“ im Einsatz. Weil nicht ein Business-Angel die ganze fachliche Palette von Software bis Bio-Chemie abdecken kann, ist es die Aufgabe des Vorsitzenden, das Team mit Fachleuten für möglichst jeden Bereich zu besetzen. Für seine eigenen Schützlinge hält sich der 69-Jährige an die goldene Regel der drei Ks: Kontakte, Know-how und Kapital. Damit kann er im Laufe von acht Jahren in 28 Fällen helfen. Sechs Firmen hat er nicht nur mit Know-how und Kontakten, sondern auch mit Kapital unterstützt, nur in einem Fall musste er seine Beteiligung abschreiben. Die Beratung beginnt mit meist dem Erstellen eines brauchbaren Businessplans. „Wer eine Geschäftsidee hat, muss diese noch nicht in die perfekte betriebswirtschaftliche Form bringen“, erklärt Gropp, „er muss aber formulieren können, was er eigentlich will.“ Und da gingen bei vielen die Probleme schon los. Im Gespräch muss der Berater herausfinden, ob jemand nur schlecht formulieren kann oder ob tatsächlich die Idee schlecht ist. Dann werden die Marktchancen der Produktidee sondiert. „Manche junge Gründer sind so verliebt in ihre tollen Ideen, dass sie gar nicht sehen wollen, dass es keine Vertriebschancen gibt“, stöhnt Gropp. Manche glauben, sie haben das Rad zum ersten Mal erfunden. Der erfahrene Manager muss in solchen Fällen die Realität ins Spiel bringen und den Existenzgründern notfalls auch ihre Idee ausreden, wenn es sie im Markt so oder ähnlich schon gibt. Im laufenden Betrieb bespricht Gropp mit den Jungunternehmern regelmäßig den Auftragsbestand und die Zahlungsmoral, sie definieren Ziele und Zielvereinbarungen mit den Mitarbeitern. Als Außenstehender hat Gropp immer den Vorteil, dass er unbedarft nachfragen und moderieren kann. “Die Gelassenheit habe ich früher nicht gehabt“, sagt Gropp, „und als ehrenamtlicher Berater kann ich die Stimmung lockern, Verkrampfungen auflösen.“ Vor dem Hintergrund seines eigenen Engagements erlaubt er sich, anderen ein schlechtes Gewissen einzureden, etwa denen, die sich vorzeitig pensionieren lassen. „Wer vorzeitig in den Ruhestand geht – aus welchen Gründen auch immer – der sollte bereit sein, in irgendeiner Form der Gemeinschaft freiwillig und im Rahmen seiner Fähigkeiten zu helfen.“ Ehren-Manager Axel Gropp jedenfalls kann heute nachempfinden was das christliche Gebot “Geben ist seliger denn nehmen“ bedeutet, auch durch das, was er an Dankbarkeit von seinen adoptierten Jung-Unternehmern zurückbekommt.

Renate Jandtke-Heise wurde in Angermünde mitten im Krieg geboren und lebt heute im friedlichen Berlin-Lichtenberg. Hier fühlt sie sich so zuhause, dass sie, wenn sie wütend wird, automatisch anfängt zu berlinern. Denn Berlinerisch eignet sich – wer hätte das gedacht – hervorragend zum Schimpfen. Die Mathematiklehrerin geht nach 44 Jahren Schuldienst vorzeitig in Rente – mit den üblichen Abschlägen. „Mir war klar, dass ich jetzt irgendwas machen muss, ich kann nicht nur zuhause sitzen.“ Deshalb hört sie sich bei der Lichtenberger Freiwilligenagentur um, was es so gibt: Nachhilfe für Lehrlinge? Da fühlt sie sich unterfordert. Unterstützung für die Eltern behinderter Kinder? Nicht schon wieder Kinder! Und außerdem ist der zeitliche Aufwand schwer kalkulierbar. Zu viele Stunden kann die 63-Jährige nicht investieren, weil zuhause ein schwerbehinderter Ehemann wartet. Dann stößt Jandtke-Heise auf ein Angebot, das ihr Interesse weckt: ’Freie Hilfe – Mitarbeit im Justizvollzug’ steht auf dem Zettel. Immerhin war sie schon mal Hilfsschöffin am Moabiter Jugendgericht und hat jahrelang Abiturienten gebändigt – warum also nicht Sträflinge? „Gefangene sind auch so eine Randgruppe, wo man vielleicht noch etwas bewirken kann“, denkt sie sich und fährt zum Sitz des Vereins in die Brunnenstraße. Bevor sie ehrenamtliche Vollzugshelferin wird, gibt es ein langes Einführungsgespräch und einen Lehrgang, trotzdem kommen ihr manchmal Bedenken: „Schaffe ich das? Wie wird der Gefangene auf mich reagieren? Werde ich mich immer richtig verhalten? Aus egoistischen Gründen, wie sie selbst sagt, hat sie sich für eine Frauenhaftanstalt entschieden, denn die Lichtenberger ist nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Und außerdem seien weibliche Gefangene schwieriger als männliche, wenigstens seien die Mütter in der Elternsprechstunde immer komplizierter gewesen als die Väter. „Ja, es ist so“, druckst Jandtke-Heise herum bevor sie über ihre eigene Keckheit lachen muss, „ich habe mich bewusst für die größere Herausforderung entschieden.“ Und die hat es in sich! Denn die Inhaftierte Jana D.*, die ihr zugeteilt wird, sitzt wegen schwerer Gewaltstraftaten im Kittchen und erweist sich als überaus störrisch und unkooperativ. Sie lehnt eine Vollzugshelferin rigoros ab – es ist die Anstaltsleitung, die ihr jemanden zur Seite stellen möchte. „So ne Olle will ich nicht“, schimpft die Gefangene, die selbst nicht mehr ganz jung ist. „Die dachte, wenn eine über 60 ist, hockt die mit nem Strickstrumpf am Ofen“, mokiert sich Jandtke-Heise, „und mit so einem Omchen wollte sie nichts zu tun haben.“ Beim ersten Aufeinandertreffen vermittelt eine Kollegin der sozialpädagogischen Abteilung. Es findet wie alle Begegnungen im Anwaltszimmer der Anstalt statt: Ein Tisch mit vier Stühlen, eine vermickerte Immergrünpflanze und so eine Art Bild, das sich an der kahlen Wand erhängt hat. Es herrscht eisige Stille. Jana D., die sich nach wie vor für unschuldig hält, sieht in der Vollzugshelferin nur eine Spionin, die sie aushorchen und alle Erkenntnisse der Justiz übermitteln will. Doch mit ihrer zurückhaltenden Art schafft es Jandtke-Heise, Kontakt zu Jana D. herzustellen und am Ende des Gesprächs lässt sie sich auf die unerbetene Hilfe ein: „Okay, wir können es ja miteinander versuchen.“ Nach der Feuerprobe zeigt sich die frisch gebackene Ehrenamtliche überrascht: „Es ist doch eine ganz normale Person.“ Irgendwo war auch sie nicht frei von Vorurteilen wie dem, dass man einer Mörderin ihre Brutalität direkt an der Nasenspitze ansehen kann. Seit nun zweieinhalb Jahren geht Jandtke-Heise alle zehn Tage für zwei Stunden direkt in den Frauenknast. Jedes Mal wenn sie die Vollzugsanstalt betritt, wird sie auf Waffen und Drogen gefilzt, einen Vertrauensvorschuss aufgrund des Alters gibt es nicht. Und dann spielen die beiden Rommé, Räuberrommé natürlich, gucken die Urlaubsbilder der Heises an und reden, reden, reden. Jana kann dann mal Dampf ablassen über den alltäglichen Frust in der JVA, das unmögliche Essen, die nervenden Mitgefangenen. „Mir reicht das, aber wenn es nach Jana geht, könnte ich alle zwei Tage kommen.“ Wenn sie demnächst entlassen wird, dann möchte sie ihre Helferin am liebsten in deren Wohnung besuchen. Doch Jandtke-Heise winkt ab, nein, eine gewisse Nähe müsse man natürlich zulassen, aber man dürfe nicht zur Freundin der Inhaftierten werden. „Ich habe ihr gesagt, wenn sie entlassen wird, werde ich sie noch drei Monate weiter begleiten, dann muss sie selbst zurechtkommen.“ Die Lehrerin freut sich insgeheim darauf, bald wieder einen neuen Fall zu übernehmen. Vielleicht auch mal einen männlichen Knastbruder – weil die ja bekanntlich pflegeleichter sind… Oliver Numrich

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