Wenn Spekulatius und Glühwein den Magen wärmen, erinnern sich die Berliner daran, dass sie neben der Schnauze auch ein Herz haben. Spendensammler feiern zu Weihnachten ihre größten Erfolge. Helfer, die Suppe an Unterschichten verteilen oder Obdachlose mit Bibelzitaten nerven, können sich vor Freiwilligen kaum retten. Ist das Nächstenliebe oder arbeiten da Gutmenschen an ihrem Karma? Beim Kiezbingo im SO36 wird nicht nur zu Weihnachten, sondern ganzjährig Gutes getan – ohne viel Aufhebens. Denn sämtliche Erlöse der trashigen Glücksspiel-Persiflage gehen an bedürftige Projekte, vom Kinderbauernhof bis zur Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. „Das ist eine schöne Sache. Ich darf das sagen, weil ich nichts davon habe“, sagt Moderatorin Gisela Sommer. Sicher? „Okay, wir kriegen einen BVG-Fahrschein, damit wir hinterher nach Hause kommen“. Und nach einer kurzen Pause: „Außerdem können wir umsonst trinken.“ Abwechselnd mit Kollegin Inge Borg verkündet sie die Glückszahlen, die das Publikum – ein bunter Querschnitt der Bewohner der Oranienstraße, von der Oma bis zum Jungtürken – mit jenen auf den Bingo-Scheinen vergleicht. Die Scheine werden gegen Spende von den Mitarbeitern der Projekte ausgegeben.
Natürlich verläuft Kiezbingo in einem Punkschuppen wie dem SO 36 anders als in der Kirchengemeinde. Wenn ein Teilnehmer eine Zahlenreihe vervollständigen konnte, blinken die Bingo-Lettern auf der Bühne. Alles wie gehabt. Dann aber puscheln die Geriatrischen CheerleaderInnen mit ihrem Weihnachtsoutfit – so gut sie können, schließlich sind alle über 30. Und die Waldflamingo-Bingo-Band quittiert das mit einem Tusch. Seit sechs Jahren ist es der gleiche nervtötende Jingle, aber mehr können sie nicht. „Wir machen hier Travestie-Imitation“, sagt Moderatorin Sommer, „die Leute gruseln sich, wenn sie nach vorne kommen müssen, um den Gewinn abzuholen.“ Die Gewinne werden von den benachbarten Geschäften und Lokalen gestiftet. Eine Woche vor Veranstaltung klappern Vertreter des Projekts, dem die Einnahmen zukommen, die Läden ab, stellen ihre Initiative vor und bitten um eine Gabe. Dabei geben fast alle irgendetwas – von einem Gutschein über eine „Pizza, aber nicht Nr. 57 und 58“ bis zu einem Freiflug nach Kuba. Pro Spieleabend kommen mit Eintrittsgeldern (3 Euro pro Person inklusive Garderobe) und dem Verkauf der Bingo-Zettel mindestens 1000 Euro für das jeweilige Spendenprojekt zusammen. Oft auch mehr, wenn Betriebe ihre Weihnachtsfeier ins SO36 verlegen. „Die Leute denken nicht ,Ich sitze hier und tue was Gutes, indem ich Zahlen auf nem bunten Zettel abdecke“, sagt Sommer, „sondern die haben einfach Spaß.“ Ist Glücksspiel unmoralisch? Falls es so was wie den guten Geist der Weihnacht gibt, er würde hier mitzocken.
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