Berliner Mythen: Die Heimat des Architektenpärchens

Die Westberliner Equipe ist vollständig angetreten, Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker und Bundespräsident Walter Scheel macht eine Prophezeiung: „Dieses Kongreßzentrum hat Chancen, hier noch zu stehen, wenn die Cheops-Pyramide schon längst verwittert ist“. Es ist der 2. April 1979, die Eröffnung des Internationalen Congress Centrums Berlin. Das ICC, das sind 800.000 Kubikmeter umbauter Raum, davon 80 Säle mit 5 bis 5.000 Plätzen, Rolltreppen, versenkbare Tribünen, Konzertakustik und eine Schallschutzhaut aus Aluminium – noch nie zuvor wurde ein Haus dieser Dimension für Konferenzen gebaut. Das Architektenpaar Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler kleckert nicht. Zwischen Autobahn und Messehallen entsteht in vier Jahren Bauzeit nicht nur das größte und modernste, sondern auch das teuerste Gebäude Deutschlands. Das „Raumschiff“ kostet die Berliner rund eine Milliarde Mark, für die Betriebskosten werden jährlich 22,6 Mio. Mark veranschlagt. „Die futuristische Form entspricht den hohen Anforderungen“, sagt Ralf Schüler, heute 75, stolz wie ein junger Vater „Ich habe beim Zeichnen jedes Detail gefragt: >Wie willst du werden, wenn Du das tun musst?<“ 70 Großveranstaltungen und 500 nationale und internationale Kongresse finden seitdem jedes Jahr im ICC statt, darunter Mega-Tagungen mit bis zu 22.000 Teilnehmern wie die Welt-Aids-Konferenz oder die Weltklimakonferenz. 250.000 Menschen hasten Jahr für Jahr durch die Foyers und Treppenhäuser des ICC und lassen dabei durchschnittlich 50 Millionen Euro in der Stadt. Ein Vierteljahrhundert nach seiner Eröffnung – das ICC wurde gerade von 230.000 Tourismusexperten zum „World’s leading Conference & Convention Centre 2004“ gewählt – denkt ein mittelloser Senat am anderen Ende der Stadt auffällig laut über einen Abriss nach. Hintergrund: Der Unterhalt des ICC sei zu teuer und nur 10% der Fläche des ICC vermietbar. „Das ist völlig aus der Luft gegriffen“, sagt Architektin Schüler-Witte, „allein die Säle machen weit mehr als 10% aus“ bis sie von Ihrem Mann übertönt wird: „Das sind doch polemisch formulierte Zahlen, um den Boden für den Abriss zu bereiten.“ In Ihrem kleinen Büro in Kudamm-Nähe organisieren sie den Widerstand gegen den „ICC-Skandal“. Neues Ungemach bereitet ein bisher nur in Auszügen veröffentlichtes Gutachten des Architektenbüros Gerkan, Marg und Partner (gmp). Dessen kurioses Ergebnis: Der Abriss des teuersten Gebäudes Berlins und ein Neubau seien deutlich billiger als der Weiterbetrieb des ICC. Gmp hat auch gleich einen Entwurf für die neue Halle mitgeliefert. „Das ist Hannover. Bestenfalls…“, spotten die Architekten über die Multifunktionshalle, die sich nach ihrer Meinung nicht mal ICC nennen dürfte, weil es den Anforderungen an ein internationales Kongresszentrum nicht genüge. Berlin ohne sein Raumschiff an der A100? Das wäre wie Paris ohne Centre Pompidou oder Ägypten ohne die Cheops-Pyramide. Oliver Numrich

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