Begehrte Teigwunden-Trägerin: Rettungsoma als Opfer

Oma Charlotte hat schon viel durchgemacht: Sämtliche ihrer Gliedmaßen waren gebrochen, sie litt unter Krebs, Blutungen, Unterzuckerung, zog sich Schuss- und Stichwunden zu und hatte unzählige Schlaganfälle sowie knapp 150 Herzinfarkte, von denen etwa 30 tödlich verliefen. Charlotte Ewert ist heute 84 Jahre alt und kein medizinisches Wunder, sondern Patientendarstellerin der Johanniter-Unfall-Hilfe in Braunschweig.

Bereits ihr halbes Leben lässt sich Charlotte Ewert von angehenden Sanitätern und Ärzten untersuchen und außer Lebensgefahr bringen. Behandlungsfehler verzeiht sie den jungen Leuten nicht. Schließlich kennt sie alle Krankheitsverläufe aus dem Effeff und im Falle einer Fehldiagnose wird ihr Zustand rapide schlechter, die gespielten Schmerzen nehmen zu und dann simuliert sie – sofern kein Ausbilder eingreift – konsequent den Todesfall. Angefangen hat ihr Engagement mit dem Besuch eines Erste-Hilfe-Kurses. Das war 1969. Ewert merkt sofort, dass sie sich hier bei den Johannitern einbringen kann und will. Charlottes Großvater war Tropenarzt und so faszinierte sie die Medizin von Kindesbein an. Zu gerne hätte sie selbst Medizin studiert, doch dafür reichte die kleine Witwenrente der Mutter nicht aus. Und so musste sich Charlotte zunächst mit der Mitgliedschaft im Jugend-Rot-Kreuz begnügen. Erst mit Anfang 40 wird Charlotte selbst Erste-Hilfe-Ausbilderin, jetzt bei den Johannitern, und unterrichtet bis zu 30 Kurse im Jahr. „Ich habe Tausenden Erste Hilfe beigebracht. Meine Kurse waren immer voll, egal ob an Schulen oder bei Unternehmen wie der Post und Siemens.“ Doch schließlich beendet eine echte Krankheit die Ausbildertätigkeit: Wegen Rheuma in den Händen kann sie die Herzlungen-Wiederbelebung nicht mehr praktizieren und gibt mit 76 Jahren ihren letzten Kurs. „Man musste auch mal aufhören können“, sagt sie und flunkert dabei, denn in Wahrheit bedeutet jenes Ende nur, dass sie von da an noch mehr „passiv ausbildet“. Denn jetzt widmet sich Charlotte ganz der realistischen Unfalldarstellung, kurz RUD, die sie so akribisch vollführt, dass sie von Ausbildungsstätten im ganzen Landkreis gebucht wird. Schließlich werden ehrenamtliche Unfalldarsteller überall händeringend gesucht und erst recht ältere. Den Teig für die Gestaltung der unappetitlichen Wunden und offenen Brüche macht Charlotte seit jeher selbst. Ein Teil Mehl, ein Teil Wasser, ein Esslöffel Öl, ein Teelöffel Salz. Das Kochen, Schmoren und Kneten dauert eine Stunde. Die fertige Pampe wird dann zusammen mit künstlichen Knochen auf der Haut festgeklebt und mit Schminke und viel Kunstblut verziert, um die jungen Mediziner schon mal darauf vorzubereiten, was sie zukünftig erwartet. „Wir können Wunden schminken, das haut die vom Hocker“, sagt Charlotte stolz, „Arm ab, Hand ab, alles kein Problem.“ Eine „Lieblingsverletzung“ in dem Sinne hat sie nicht, aber sie hat sich auf die internistischen Notfälle spezialisiert. Nur chirurgische Sachen möchte sie nicht mehr spielen. „Ich mache mich schon hässlich und die ganze Feuerwehr kennt meine Büstenhalter“, erzählt sie offen, „aber eine nackte Oma mit aufgeschnittenen Kleidern, das muss nicht sein.“ Im wahren Leben hat Charlotte neben dem Rheuma leider auch Probleme mit dem Herzen. „Ich nehme brav meinen Tabletten und mache auch sonst nichts Verrücktes“, wiegelt sie ab. Und am Opferspielen kann sie nun wirklich überhaupt nichts Verrücktes finden. Oliver Numrich

1 Kommentar

  1. Leider ist unsere Oma Charlotte am 21.08.2013 kurz vor ihrem 90. Geburtstag von uns gegangen. Wir werden sie immer in unseren Herzen bewahren!

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