Berliner Mythen: Die Heimat der Ökopioniere

Noch studiert Hannes Niemer Economics an der Berliner FU, obwohl er Kapitalismus nicht für „so eine super Sache“ hält. Wenn er damit fertig ist, wünscht er sich ein Einfamilienhaus im Grünen, mit Frau und Kindern. Und einen Job mit geregelten Arbeitszeiten, „einfach weil ich sonst morgens nicht hochkomme“, gesteht Hannes. Dabei haben seine Eltern ihn immer vor so einem Leben gewarnt. Mutter Sigrid und Papa Juppi mussten vor 27 Jahren erst das alte UFA-Gelände in Tempelhof besetzen, um aus ihrem bürgerlichen Leben ausbrechen zu können.

Besetzen? Das ist ein viel zu hartes Wort für Sigrid Niemer. „Wir haben den Platz wieder in Betrieb genommen“, sagt die heute 51-jährige Pädagogin mit stoischer Milde. In einer Schar von 100 Öko-Aktivisten aus dem Umfeld der ersten Berliner Food-Kooperative eroberten sie am 9. Juni 1979 das Gelände an der Viktoriastraße. Hier ist bis in die 60er Jahre ein Betriebsteil der Universum-Film AG mit Studios, Büros, Kopierwerk und Filmarchiv. Nach dem Abzug der UFA verödet der Ort, dient als Lagerplatz und dem Senat als Baubrache, die für eilige Investoren bereitgehalten wird. Die Besetzer sind ein gemischter Haufen: Studenten, Handwerker, Schulabbrecher, Eheabbrecher – eben eine Antibewegung. Keiner hat Geld, aber alle haben ungewöhnliche Vorstellungen vom selbst bestimmten Leben und Arbeiten inklusive handgemachter Kultur und ökologischen Experimenten. Zunächst bleibt die Besetzung unbemerkt – schließlich ist Wochenende in Tempelhof. Erst am Montag beginnen Verhandlungen mit Bürgermeister Dietrich Stobbe (SPD) und dem sozialliberalen Senat. „Wir haben eine versöhnliche Linie gefahren“, erklärt Niemer, „schließlich waren wir auch bereit, Miete zu zahlen.“ Was sanft geht, muss man nicht anders machen, ist bis heute ihr Motto. Der Senat lässt sich erweichen und auf dem UFA-Gelände beginnt etwas Neues. Um für Veranstaltungen im fernen Tempelhof zu werben, laden sie Verstärker und Stromaggregat auf den altersschwachen LKW und ziehen mit Tamtam und Musik über den Ku’damm – lange bevor es Schwulen-, Liebes-, Hanf- und sonstige Paraden gibt. Hinten am LKW hängt ein Pappschild: „Idealisten für unsere Ökokommune gesucht“. Den Lebensunterhalt schnorren sie sich mit Pantomime und artistischen Kunststückchen zusammen – privates Geld ist abgeschafft, es gibt nur noch eine gemeinsame Kasse. Die Überschüsse werden ins Café investiert, dann in eine Vollkornbäckerei und den Bioladen. Im alten Kinosaal spiele sie Theater, in der ehemaligen Kantine gibt es Konzerte. Es kommt ein Gästehaus hinzu und ein neues Wohnhaus, ein Kinderbauernhof und eine freie Schule. Die besucht auch Hannes. Der Unterricht beginnt um neun Uhr. Theoretisch. „Bis zehn waren die meisten da“, sagt Hannes, „da hat keiner drauf geachtet.“ Er ist meistens pünktlich. Klar, die UFA-Fabrik ist sein Zuhause, auch wenn er mittlerweile woanders wohnt. Aber am Wochenende arbeitet er noch im elterlichen Theater mit und wer weiß: „Es kann genau so gut sein, dass ich am Ende doch in der UFA lande.“ Sein Economics-Studium sei kein Protest gegen die Eltern, mit denen er sehr gut auskommt, „höchstens unterbewusst vielleicht“, schiebt er leise hinterher. Oliver Numrich

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