„Neue Welt“ heißt das Gelände am östlichen Rand der Hasenheide schon seit über 125 Jahren – erst viel später wurde die Multifunktionshalle mit dem Huxley-Roman „Schöne neue Welt“ von 1932 in Verbindung gebracht. Wo heute die Söhne Mannheims Konzerte geben und eine Tattoo Convention Freaks anlockt, war früher einer der größten und bedeutendsten Festsäle Berlins. Bis zu 10.000 Menschen passten hinein, sie kamen zu Fuß oder mit der Pferdebahn aus Rixdorf, Tempelhof und Umgebung, um im Saal der Löwen-Böhmischen Brauerei eine „Molle zu zischen“. Es war ein Vergnügungsort der unteren Schichten, für Dienstmädchen und Plätterinnen, Gasarbeiter und Heringsverkäufer, zwischen denen sich Unterbeamte, Konfektioneusen und Halbwelt tummelten. Die Veranstaltungen reichten von Konzert- und Variété-Vorstellungen – Johann Strauß, Paul Lincke und Hanns Eisler haben hier aufgespielt – bis hin zu politischen Versammlungen vornehmlich linker Parteien und Vereine, die hier ihre Forderungen formulierten. So grantelte schon Reichskanzler Bismarck „Die deutsche Politik wird nicht an der Hasenheide gemacht!“ Bebel, Thälmann, Ulbricht und später auch Dutschke haben in der Neuen Welt gesprochen, 1978 gründete sich hier die Alternative Liste, aus der später Die Grünen wurden. Doch auch Schleicher, Goebbels und Hitler haben hier ihren Hass gesät. Bei aller Politik – die mit Abstand beliebteste Veranstaltung war das Bockbierfest mit Alpenball, das seit 1904 zu Beginn jeden Jahres gefeiert wurde. Dazu verschwand der Jugendstilschmuck an den Wänden vollständig unter Berg- und Wald-Kulissen aus Pappmachée, die umlaufende Saalgalerie wurde zum „Kraxelsteg“, es gab echt bayrischer Bedienung und eine große Rutsche für Erwachsene von der Empore runter zur Tanzfläche. In Berlin Alexanderplatz schildert Alfred Döblin die Stimmung: „Die Musik saß im Tiroler Kostüm auf der Bühne. Und das ging in die Beine, mit jedem Takt, und zwischen den Bierseideln schmunzelten sie, summten mit…“ Heute ist vom alten Glanz nicht mehr viel übrig: die Bockbierfeste wurden zwischenzeitlich abgelöst von Wettkämpfen im Catchen, immer wieder drohte das Areal zu verfallen. Im großen Saal trennt jetzt eine Zwischendecke einen Supermarkt vom Huxley´s-Club, dahinter ist eine Bowlingbahn untergebracht. Seit über 40 Jahren bedient hier Ayatoll Ahi: „Früher hat man einfach mehr gefeiert“, erzählt er, „da waren die Leute nicht so gestresst wie heute.“
Oliver Numrich
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