Pleiten, Pech und Pannen: Stadtführung für kritische Flaneure

Zählt mal die Kosten für Fehlplanungen, Invest-Ruinen und Steuergeschenke zusammen, denen man bei der Stadtführung von Arno Paulus begegnet, kommt man leicht auf einen zehnstelligen Eurobetrag. Die Führung trägt den Titel „Pleiten, Pech und Pannen im neuen Berlin“ und leider handelt es sich nicht um die „Lügentour“ und auch Max Schautzer hat nichts damit zu tun. Es geht nicht um Schadenfreude, um kleine Missgeschicke, sondern um die großen – den alltäglichen Verschwendungswahnsinn im bankrotten, korrupten Berlin. Stadtführer Paulus weiß, wovon er den Teilnehmern erzählt: Er hat Architektur und Stadtplanung an der UdK studiert, und beriet Murxpolitiker Peter Strieder in Solar-Fragen, als jener noch Bezirksbürgermeister in Kreuzberg war. Er bietet zwei Pleiten-Führungen durch Kreuzberg-Friedrichshain oder Mitte und eine Solarenergie-Tour an. Jede dauert um die zwei Stunden und kostet 4,- Euro. Sie starten täglich um 11:00 Uhr oder nach Vereinbarung, wenn sich mindestens zwei nervenstarke Teilnehmer finden. Ausgangspunkt der „Tour tristesse“ in Kreuzberg-Friedrichshain ist die Admiralbrücke über dem Landwehrkanal, Nähe Kottbusser Tor. Sie beginnt geschichtlich: „Wussten Sie, dass in dem Haus mit dem angesagten Italiener früher die SA ihr Stammlokal hatte?“, fragt Paulus in die Runde. Heute gehöre es dem rechtsradialen Verleger Gerhard Frey, womit ein Krumen jeder Pizza die neue „Deutsche National-Zeitung“ quersubventioniere. Weiter geht es entlang dem Paul-Lincke-Ufer, wo Ossi Wiener – Vater von Promi-Mamsel Sarah – ins „Exil“ lud. Von hier schwabbte die neue deutsche Welle über die BRD, voran die „Lokomotive Kreuzberg“, dem Vorgänger der Nina-Hagen-Band. Paulus war damals ihr Busfahrer. Und dann kommen die schwer verdaulichen Brocken: Das Kottbusser Tor. Beim Bau des „Neuen Kreuzberger Zentrum“, dem Wohnklotz, der die Adalbertstraße abriegelt, gründete sich die erste Bürgerinitiative Westberlins. Später ging aus ihr mit Werner Orlowski der erste grüne Stadtrat an den Start. Heute ist der in Beton gegossene Albtraum behutsamer Stadterneuerung marode und steckt trotz Millionen Euro teurer Geldspritzen aus dem Landeshaushalt tief in den roten Zahlen. Nur eins von vielen Beispielen auf dieser Route für die unheilvolle Mischpoke aus prahlerischen Politikern und skrupellosen Investoren im alten wie im neuen Berlin. „Sie sollten nicht in Beton investieren, sondern in Menschen“ fordert Paulus. Denn Berlin lebe von den vielen verrückten Ideen kreativer Köpfe, die sich gegen alle Widerstände durchsetzen. Nächstes gescheitertes Mega-Projekt der kritischen Flaneure: Das Internationale Solarcenter am Stralauer Platz. Mit 40 Mio. Mark vom CDU-SPD-Senat als Vorzeige-Niedrigenergiehaus gefördert und dann vergessen. Heute sei es das „Energieforum“, gehöre der R&V-Versicherung und müsse mit zusätzlicher Fernwärme geheizt werden. Das riesige, verglaste Atrium könne für Veranstaltungen nicht genutzt werden, weil an der Sprinkleranlage gespart wurde, erzählt Paulus. Die Berliner Feuervorschriften seien anfangs auch für die Anschütz-Gruppe hinderlich gewesen, sagt Paulus. Der Investor will gleich um die Ecke die Kopie einer in Los Angeles errichteten Veranstaltungshalle für 12.000 Menschen hochziehen. Nach einer Stippvisite in Kalifornien änderten die zuständigen Beamten ihre Meinung, so Paulus, und die Brandschutzverordnung gleich mit. Der Senat übernimmt schon mal die Bauvorbereitungen auf dem Areal, doch leider verschiebt der Investor seine Baupläne seit dem Jahr 2000 ein ums andere Mal, weil noch immer ein potenter Namenspatron fehlt, der einen Gutteil der 150 Millionen Euro für eine zehnjährige Taufe der Halle zahlt. Weitere Stationen sind der neue 70 Mio. Euro teure ver.di-Büroneubau, Media Spree mit Anschütz-Halle, Plänterwald, Cuvry-Areal und Görlitzer Park. „Viele haben hinterher eine geballte Faust in der Tasche“, meint Skandal-Führer Paulus, „angesichts von so viel Misswirtschaft.“ An der Oberbaumbrücke erzählt Paulus gerne von einem Gespräch mit Stararchitekt Sir Norman Foster. Der sei nämlich anfangs absolut gegen die Kuppel auf dem Reichstag gewesen und habe sie nur auf Druck des Bundestagsbauausschusses aus dem Entwurf des Kollegen Santiago Calatrava übernommen. Weil dieser danach besänftigt werden musste, durfte er eine Brücke im Regierungsviertel und das Mittelstück der Oberbaumbrücke designen. Oliver Numrich

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