
Alle sechs Wochen liefert die deutsche Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) gespendete Medikamente und Pflegehilfsmittel an ihre polnischen Sozialstationen. Doch warum „Humanitarian AID“ für ein Land, das seit dem 1. Mai Vollmitglied der EU ist? Oliver Numrich verfolgte den ersten zollfreien Polen-Hilfstransport von der deutschen Grenze bis zu den Patienten in den masurischen Dörfern.
Es gibt nur wenige Autobahnen in Polen. Deshalb braucht der mit Medikamenten und Pflegehilfsmitteln beladene Sattelschlepper einen vollen Tag von der deutschen Grenze bis in die Masuren im nordöstlichen Winkel des Landes. Pommern ist die Kornkammer Polens. Der Westen hat jetzt die EU, der Süden die Industrie, aber Masuren im Osten ist Polens Armenhaus. Die Arbeitslosigkeit liegt hier bei 30 Prozent. Es geht durch Alleen und dunkle Wälder, vorbei an Dörfern und Seen, über mal besser, mal schlechter ausgebaute Landstraßen, zum Teil über die alten Betonplatten, die Hitler für die „Reichsstraße 1“ von Aachen nach Kaliningrad – damals noch Königsberg – verlegen ließ. Früher war das hier Ostpreußen. Die deutsche Johanniter-Unfall-Hilfe liefert seit elf Jahren Hilfsgüter und will das auch weiterhin tun, obwohl Polen jetzt zur EU gehört. Olsztyn – Durch die Windschutzscheibe die ersten Eindrücke vom unbekannten Nachbarland: Vielen Häusern fehlen Putz und Wandfarbe, an manchen wird im jahrelangen Patchwork gewerkelt, andere verfallen.

Im Gegensatz dazu die gigantischen Kirchenbauten, die gleich hinter maroden Bauernhöfen am Straßenrand auftauchen. „EU“ steht hier auf großen blauen Infotafeln und bedeutet: Ausbau von Straßen, neue Bürgersteige und Fahrradwege. Die Straßen werden nicht nur von uralten und ultraneuen Autos genutzt, sondern auch von Fußgängern, Fahrrädern, Pferdekutschen, Treckern. Dazwischen der 8-Tonner mit der leuchtend orangenen Aufschrift „Humanitarian AID – Die Johanniter“. Wenn er durch die polnischen Dörfer kurvt, zieht er die Blicke der Passanten auf sich. Seit 1993 liefern die deutschen Johanniter Hilfsgüter an ihre polnische Schwesterorganisation. Und sie wollen auch jetzt, da Polen zur EU gehört, nicht damit aufhören. Erste Station in der Woiwodschaft Warminsko-Mazurskie ist Mragowo, einst Sensburg. Nach knapper, herzlicher Begrüßung durch die Krankenschwestern werden eilig Pappkartons mit Medikamenten und in Plastik eingeschweißte Bündel von Holzkrücken ausgeladen und in eine umfunktionierte Wohnung im ersten Stock getragen.
Im Büro beschwichtigt Schwester Ingrid Zacharewcz einen nervösen Patienten am Telefon. Hinter ihr eine Tafel, auf der eingetragen ist, an wen Rollstühle und Pflegebetten verliehen sind. Vorn auf dem Schreibtisch steht eine leere Sammelbüchse: „Auch deine Spende hilft den Kranken.“ Außerdem gehören ein Medikamentenlager, ein Materiallager und ein Behandlungszimmer, in dem zweimal in der Woche ein Arzt eine Sprechstunde abhält, zur Station. Hauptaufgabe ist die ambulante Pflege. Die Schwestern besuchen Patienten zuhause, die unter Altersgebrechlichkeit, Zucker, den Folgen eines Schlaganfalls oder einer Krebserkrankung leiden. Sie übernehmen auch das Waschen und Eincremen oder die Versorgung von Wunden und chronischen Krankheiten. Einmal in der Woche geben die Schwestern gegen Rezept und Quittung Medikamente an Bedürftige aus, die sich die Zuzahlungen nicht leisten können. Neben der Tür zur Medikamentenkammer steht ein Regal mit simpel gemachtem Holzspielzeug. „Eine Patientin mit Schlafstörungen bastelt das nachts“, erklärt mir Henryk Czerwinski, der Vorsitzende der polnischen Johanniter-Stiftung, „und weil wir niemals Geschenke ablehnen können, stellen wir es hierher.“ Czerwinski, geboren im polnischen „Ameryca“, hat die doppelte Staatsbürgerschaft und zwei Pässe. Im deutschen heißt er Heinz Otto mit Vornamen, im polnischen Henryk. Schwester Marianna Wilk, 37, mahnt zur Eile, der erste Pflegefall wartet. Sie ist seit der Gründung der Station dabei, war vorher im Städtischen Krankenhaus beschäftigt. Der aufgedrängte, viel zu heiße Kaffee, muss zurückbleiben – wie in Deutschland und überall sonst auf der Welt stehen die Pflegekräfte ständig unter Zeitdruck. Mit einem weißen Opel, den das deutsche Bundesinnenministerium gespendet hat, rasen wir über grünes Land, vorbei an umwucherten Feldern,
Marien-Kreuzen und Fliederbusch-Wäldern. Eine ländliche Idylle wie in einer Werbung für Backmischungen für Zupfkuchen nach Omas altem Originalrezept. Nach einer halben Stunde erreichen wir das Dorf Gora Mala. Hier haust der 78-jähirge Mariar Wierzbicki mit Frau in einer ärmlichen Bauernhütte. Ein Teil des Daches ist eingebrochen, die Holzwände der Scheune sind morsch, der ganze Hof wirkt kärglich und heruntergekommen. Vor der Hütte ist ein Kalb festgebunden – es trägt bereits entsprechend den EU-Vorschriften beide Identifizierungsknöpfe in den Ohren. Durch einen kleinen Flur mit Treppenaufgang gelangt man in den großen Küchenraum mit Feuerstelle, dahinter das Wohnzimmer.
Es ist dunkel und muffig, Stroh und Unrat liegen auf dem Boden, der Putz an den Wänden bröckelt. Seit seinem Schlaganfall schläft Mariar hier in einem geliehenen Krankenbett. Wegen Diabetes und mangelnder Bewegung ist sein Fuß kaum durchblutet. Die Ärzte wollten ihn amputieren, doch seitdem die Schwestern zwei mal die Woche kommen, Mariar zum Aufstehen überreden und den Verband wechseln, verbessert sich sein Zustand. Früher konnte er auch ein paar Brocken Deutsch sprechen, doch selbst sein Polnisch ist jetzt nur noch Gemurmel. Als ich ihn auf Deutsch anspreche, antwortet er zur Verblüffung der Anwesenden in Deutsch: „Ich habe alles verlernt.“ Nachdem die Wunde versorgt ist, verbrennt Schwester Ingrid die verwendeten Einweghandschuhe im Küchenofen, um sicher zu gehen, dass Mariars Frau sie nicht weiterverwendet.
Während der eiligen Rückfahrt zur Station erklärt mir die sechzigjährige Krankenschwester, warum die Situation in Polen so ist wie sie ist: „Heute hat keiner mehr Zeit für die Alten, alle müssen sich auf die neue Wirtschaft einstellen. Gerade die Menschen über 80 sind sehr allein.“ Viele Alte freuten sich so sehr auf den Besuch der Schwestern und auf das Gespräch, dass sie sie nicht mehr gehen lassen wollten. „Dann haben sie extra Kuchen für uns gebacken und sagen: Ihr könnt nicht gehen, ihr müsst erst Kuchen essen.“ Von Mragowo zieht der Hilfsgütertruck weiter zur Sozialstation in Glzycko, das mal Lötzen hieß. Auf dem Weg dorthin kommen wir bei Gierloz an Hitlers damaligen Befehlsstand „Wolfsschanze“ vorbei. Wo am 20. Juli 44 ein Bombenanschlag von Graf Stauffenberg missglückte, ist heute ein Museum. Die zwei Schwestern der Glzyckoer Station versorgen 80 Patienten. Nachdem die Hilfsladung gelöscht ist und alle zu Kaffee und „Merci“-Schokolade am kleinen Besprechungstisch verschnaufen, tritt Schwester Beata im vertraulichen Ton an Fahrer Klaus-Peter Plötz heran: „Ich habe noch einen Liebesbrief für Dich.“ – „Na, was kommt jetzt?“ fragt dieser ahnungsvoll.

Schwester Beata liest einen Zettel vor von einem Mädchen mit Muskelschwund; die Akkus ihres Elektrorollstuhls hätten den Geist aufgegeben und seien in Polen schwer zu beschaffen und ohnehin zu teuer für die Familie. „Das Mädchen bittet Dich, ihr beim nächsten Mal neue Batterien mitzubringen“, flötet Beata. Plötz, ein bäriger, jovialer Typ stöhnt kurz auf und sagt dann: „Na, gib mir den Brief mal mit.“ Natürlich wird er die Spezialbatterien besorgen und irgendwem die nötigen 200 Euro aus den Rippen leiern. Rasch schiebt auch Schwester Barbara noch zwei Aufträge hinterher: Rheumasalbe und Schmerzmittel fehlten. Zur Kaffeerunde stößt auch Pfarrer Paul Hause. Er ist ebenfalls Vorstandsmitglied der polnischen Johanniterstiftung und seit vier Jahren als Vertrauenspfarrer seelischer Beistand der Schwestern der Sozialstationen. Im benachbarten Ketrzyn betreut er die mit 550 Gläubigen größte evangelische Gemeinde in den Masuren. „Vielleicht waren wir früher zu sozial“, sagt Pfarrer Hause, „aber die Umstellung jetzt ist sehr hart. Die Preise steigen, aber Gehälter und Renten bleiben. Keiner kann sich mehr etwas leisten.“ Gerade alte und chronisch kranke Menschen seien dringend auf die Unterstützung aus Deutschland angewiesen. Hause hat während des Theologiestudiums Deutsch gelernt, so kann er, wenn Sommer Gäste da sind, den
Gottesdienst zweisprachig abhalten. Gäste, das sind vor allem die „Heimwehtouristen“, die „Ostpreußler“, aus Deutschland, aber auch immer mehr Abenteuerlustige aus ganz Europa, die auf dem Fahrrad die Natur genießen wollen. Auf dem „Agro-Tourismus“ ruhen alle Hoffnungen. Denn die Landwirtschaft ist kleinteilig organisiert, der Mechanisierungsgrad gering und die Anbaumethoden sind veraltetet. Der Großteil der Höfe ist der europäischen Konkurrenz nicht gewachsen und nur mit Öko-Touristen, die ihre Ferien auf dem Bauernhof verbringen möchten, überlebensfähig. Dazu bietet die urtümliche Landschaft Wälder und Heideland zum Wandern, und dazwischen Seen, die besegelt werden wollen. Zudem gibt es in jedem Städtchen eine alte Ritterburg zu besichtigen, die EU baut Fahrradwege – allein die gastronomische und die Kur- und Fitness-Infrastruktur sind noch unterentwickelt.
Zu einer Bibelstunde hat Hause einmal einen Karton mit zehn gebrauchten Brillen aus Deutschland mitgebracht – die waren am Ende der Stunde alle verteilt. Seine Zuhörer haben so lange aufprobiert, bis eine passte. Das örtliche Sozialamt habe so gut wie keine Hilfsmittel zur Verfügung, sagt Hause. „Deshalb wenden sich viele Gemeindemitglieder direkt an mich. Auch Katholiken fragen, ob ich ihnen über die Johanniter einen Gehstuhl besorgen kann oder Krücken.“ Im strömenden Regen fahren wir von Glzycko zur letzten Station nach Pisz, früher Johannisburg. In Pisz ist die Sozialstation über dem Sozialamt untergebracht, gleich neben den Räumen der örtlichen deutschen Gesellschaft, „Freundeskreis Rosch“. Deren Vorsitzende Mira Kreska, 78, ist zugleich Leiterin der Johanniter-Station. Wir begleiten die Schwestern in die alte Garnisonsstadt Orzysz („Arys, Du Mörder meiner Jugend“ sagten die Wehrmachtssoldaten) und besuchen dort den 31-jährigen Jaroslaw Szczesiul. Jaroslaw ist seit einem Motorradunfall vor zehn Jahren querschnittsgelähmt und verbringt die meiste Zeit im Bett.
Eigentlich wolle sie mich ungern begleiten, sagt Kreska, könne das Elend des jungen Mannes schwer ertragen. Aber weil sie schließlich übersetzen muss, kommt sie doch mit in die 36qm kleine Wohnung, in der Jaroslaw mit seiner Mutter und zwei Schwestern lebt. Im Treppenhaus des Plattenbaus hängen Schienen neben den Treppenstufen, die man verwenden könnte, um den Rollstuhl über die Treppen zu schieben. Doch das Gefälle ist zu steil, als dass seine Mutter ihn im Rollstuhl hinunter und wieder hinauf zerren könnte. Das Bad so winzig, dass Jaroslaw es niemals betreten kann, er wird von der Mutter oder den Schwestern gewaschen. In sein schmales Zimmer passt gerade das Krankenbett und daneben ein altertümlicher, mit rotem Samt bespannte Rollstuhl, der an monarchistische Zeiten erinnert. Direkt am Fußende des Bettes steht ein Regal mit einer kleinen Flimmerkiste. „Tschesck“, begrüße ich ihn und frage, wie es ihm geht. „Schlecht“, sagt er und meint es ernst. Man erklärt mir, dass er sich zwar mit seiner Lage abgefunden habe, von einer Rehabilitationskur aber eine neue Krankheit mitgebracht hätte, die seinen Körper langsam auffräße. Bevor ich weitere Fragen stellen kann, beginnen die Schwestern damit, Jaroslaw auszuziehen und den Verband an seinem Gesäß zu öffnen. Sofort erfüllt sich die Kammer mit dem Geruch der eitrigen Wunde. Am After des Unglücklichen klafft eine großflächige, tief ins Fleisch gehende Wunde, die von den beiden Schwestern vorsichtig gesäubert und neu verbunden wird. Aber mehr können sie nicht tun.
Auch der Hausarzt weiß nicht, wie das Ausbreiten der Wunde verhindert werden kann. „Wir brauchen neue, bessere Medikamente, sonst frisst ihn die Wunde auf“, sagt Schwester Sabina verzweifelt, „wir wissen gar nicht, wie wir ihm noch helfen können. Es heilt einfach nicht.“ Die beiden Krankenschwestern Sabine und Grazyna sind Jaroslaws beste Freunde geworden. Er erzählt ihnen alles. Wenn er sich mal mit der Mutter streitet, sind die Johanniter-Schwestern die einzigen, mit denen er reden kann. Sie sagen dann, er solle sich wieder versöhnen, wo die Mutter doch so viel für ihn tut. Im Wohnzimmer, das zugleich Schlafzimmer der Mutter ist, unterhalten sich Mira Kreska und Mutter Maria, 54. Maria Szczesiul hat angefangen, Deutsch zu lernen, wegen den Johannitern und wegen der EU. Weil sie ihren Sohn rund um die Uhr versorgen muss, kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Ihr Mann hat sie verlassen und jetzt ist bei Jaroslaw auch noch die Infektion dazu gekommen. Von Jaroslaws Rente in Höhe von 600 Zloty bezahlt die Mutter Essen und „Pampers“. Allein die kosten jeden Monat 300 Zloty. Von ihrer Sozialhilfe bezahlt sie die Miete in Höhe von 500 Zloty, da bleibt kein Geld für Medikamente. Deshalb bringen die Johanniter bei ihrem wöchentlichen Besuch Antibiotika (150 Zloty pro Monat) sowie Salben und Verbandsmaterial mit. „Ohne die Schwestern, hätte ich mir schon längst das Leben genommen“, sagt Maria Szczesiul. Dann weint sie und Mira Kreska auch. Oliver Numrich (2009)
Kommentar verfassen