„Täglich reden wir vom antiautoritären Kampf, von der Notwendigkeit, diese Gesellschaft zu verändern“, heißt es im Aufruf des Aktionsrats zur Befreiung der Frau. Doch während im Frühjahr 1968 vor allem Männer auf Plenen und Demos mitmischen, bleiben viele Frauen wegen der Kinder zuhause. Studentinnen aus dem Umfeld des ultralinken SDS wollen deshalb „Möglichkeiten für eine antiautoritäre Erziehung der Kinder“ schaffen. In den nächsten Tagen und Wochen starten in Berlin sieben sozialistische Kindergartenprojekte. Es werden Deutschlands erste Kinderläden, benannt nach den Räumen, in denen sie zumeist unterkommen: leer stehenden Ladengeschäften. „Erziehung zu Kampf, Konflikt und sozialistischer Lebensperspektive“ lautet die pädagogische Marschroute. In Wilmersdorf, in der Babelsberger Straße 11, wird eine ehemalige Bäckerei samt Verkaufsraum angemietet, nur vier Häuser weiter steht die „Babelsburg“, soziologisches Institut der FU und zugleich Zentrale studentischen Aufbegehrens. Bettina und ihre Zwillingsschwester Regina sind gerade sechs Jahre alt, als ihre Mutter sie hier zum ersten Mal absetzt. Sie ist keine Unbekannte im Kinderladen: Ulrike Maria Meinhof hatte als Mitglied des Frauen-Aktionsrats indirekten Anteil an der Gründung. Auch ideologisch kämpft sie an der gleichen Front, schreibt in der Zeitschrift „konkret“, die von Papa Röhl herausgegeben wird, gegen einen autoritären, imperialistischen Kapitalismus an. „Die Stimmung im Laden war bombig“, erzählt Bettina Röhl (Foto), „in der alten Backstube hingen Autoreifen von der Decke, mit denen konnte man sich wie beim Autoscooter gegenseitig rammen.“ Eine Ermahnung beim Toben müssen die Ladenkinder nicht fürchten, sollen sie sich doch ganz und gar frei fühlen. Erzieher Fehlanzeige – die engagierten Eltern wechseln sich beim Kinderhüten ab. „Meine Mutter fand das Prinzip gut“, erinnert sich Bettina Röhl, „sie selber hatte allerdings nie Zeit und schickte an ihren Tagen immer jemand anderen vorbei.“ Alles ist erlaubt, was im „normalen“ Kindergarten streng verboten ist: Wände bemalen, durchs Fenster steigen, kommen und gehen wann man Lust hat. Doch während die Kinder in anderen revolutionären Horten nackt herumlaufen, bleibt es in der Babelsberger 11 züchtig. „Damit hatten wir Gott sei Dank nichts zu tun“, sagt Bettina Röhl, „die Eltern bei uns waren meist junge Akademiker, die sich selber noch nicht allzu sehr entbürgerlicht hatten.“ An Samstagen dient der Laden als Treffpunkt für Demonstrationen, die gemeinsame Ausflüge ersetzen müssen. Zwischen dem sechsten und siebten Lebensjahr besucht Bettina über 50 Demos, deren Themen sich gleichen: Es geht um Vietnam und Springer, Kuba und Ho Tschi Minh. „Alle Nase lang gab es Straßentheater mit ein bisschen Weltrevolution am Kuhdamm“, sagt Röhl, die heute als Journalistin für „Die Zeit“, Cicero und „taz“ arbeitet und mit ihren Enthüllungen über Alt-68er grüne Gurus wie Joseph Fischer und Daniel Cohn-Bendit zur Verzweiflung treibt. In der Babelsberger Straße 11 befindet sich heute ein Immobilienbüro. Oliver Numrich
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