Weihnachten naht: Achtung, Gutmenschenalarm!

Wider großstädtischem Überlebenskampf und spätkapitalistischer Ellenbogen-Mentalität macht Berlin zum Jahresende ein freundliches Gesicht: Immer mehr Menschen engagieren sich ehrenamtlich, helfen Heiligabend in der Suppenküche, versorgen nach Feierabend hungrige Lebensretter, betreuen HIV-Kranke oder sammeln Spenden für Notleidende in aller Welt. Aber warum arbeiten immer mehr ohne Bezahlung? Über den Trend zum ehrenhaften Engagement.

„Also, ich bin der Marcus und ich möchte hier heute mithelfen…“ Es ist Heiligabend, kurz vor Fünf, am hinteren, zugigen Ende des Ku‘damms. Marcus, Tom und Elisabeth stellen sich den festen Mitarbeitern vor. Sie sind Freiwillige, die sich vorgenommen haben, heute Abend der Stadtmission zu dienen. Wie jedes Jahr werden rund achtzig Gäste erwartet: Obdachlose, Alte, Einsame, denen man hier eine Weihnachtsparty arrangiert. „Ihr könnt die bunten Teller für die Tische vorbereiten“, schlägt der Missionskoch vor. Im Materiallager stapeln sich von Toben gespendete Kuchenbleche, Apfelsinenkisten und Keksdosen. Germanistik-Student Marcus, Buchhändler-Azubi Tom und Stewardess Elisabeth versuchen, sich in der ungewohnten Umgebung nützlich zu machen, indem sie Kuchenscheiben auf Pappteller klatschen. „Wir haben noch zu“, wimmelt eine Sozialarbeiterin die Vermummten ab, die im Eiswind vor der Tür schlottern. Schnelle Einweisung: „Bis Acht sind die Getränke frei, danach kostet alles 30 Cent, jeder kriegt eine Gänsekeule mit Grünkohl und Kartoffeln, Nachschlag nur Grünkohl mit Kartoffeln, Alkohol ist verboten.“ Die Eintags-Helfer sind nervös, als die ersten das mollig warme Ladengeschäft betreten. Ein Rentner mit hoch gerecktem Kopf im verschlissenen Anzug, ein Häufchen Treber in Lumpen, der große, dünne Typ, der manchmal vor dem Kranzler-Eck zu Musik auf einem Hocker steht und Touristen schockiert. Gleich am Anfang gibt es Stunk, weil die Ehrenamtlichen immer nur drei Apfelsinen auf die bunten Teller gelegt haben, aber vier Leute an jedem Tisch sitzen. Außerdem haben sie zu reichlich Kekse aufgefahren, der Koch ist genervt: „Das muss bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag reichen.“ Am Ende der Happy Holy Hour herrscht Andrang am Saft- und Kaffeetresen. „Schnell, gib mir drei Pötte Glühwein“, verlangt ein Straßenpunk und meint ein aromatisiertes Teegebräu. Doch zwischen den ungelenken Handreichungen bleibt den Ehrenamtlichen auch Zeit für Gesten, für Blicke und Gespräche. Fast hat man den Eindruck, der Stadtmission liegt weniger an der körperlichen Mithilfe der Ehrenamtlichen, als an der Begegnung. Freiwillig Fremden helfen – nur die perfekte Ausrede, um Weihnachten nicht unter dem heimischen Tannenbaum präludieren zu müssen? Pure Sozialprotzerei? Oder ist gar freiwilliges Engagement die soziale Gegenbewegung zu Schnäppchen-Manie und Ich-zuerst-Mentalität, die sich in den letzten Jahren im deutschen Gemüt breit gemacht hat? „Vielleicht ist das so“, sagt Ulrich Wiebusch von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz „zumindest nimmt das bürgerschaftliche Engagement insgesamt zu – in Berlin weist der Trend nach oben.“ Ob Ehrenamt oder Vereinsaktivität, in Selbst- oder Nachbarschaftshilfe, einmalig oder regelmäßig – die Berliner kümmern sich und wollen kein Geld dafür. 1999 wurde erstmals bundesweit zum Bürgerengagement umgefragt: 24 Prozent der Berliner waren damals aktiv. „Bei der aktuellen Umfrage von 2004 liegt die Quote deutlich höher“, triumphiert Wiebusch, will aber noch keine genauen Zahlen nennen, weil noch bis nächsten April ausgewertet wird. Nur das kann man schon verraten: Der Osten hat aufgeholt. 1999 gaben in den östlichen Bezirken Berlins weniger Befragte an, sich regelmäßig aktiv für das Gemeinwohl einzusetzen als 2004. Auch im Westteil ist die Zahl der Aktiven gestiegen – Berlin-Gesamt ist, wie immer, eine Mischpoke. „Die notwendige Infrastruktur für Bürgerengagement musste im Osten erst geschaffen werden“, erklärt Jan Reichmann, der den 2. Freiwilligensurvey für das Bundesfamilienministerium analysiert. Jetzt sei freiwillige Arbeit weniger eine Frage von West oder Ost, sondern von funktionierenden Kiezen oder Problemzonen. „Da wo die Leute insgesamt zufrieden sind, ist auch das Engagement größer, in den Problemkiezen gibt es weniger Ehrenamt.“ Also gerade da, wo Einsatz nötig wäre, kommt er nicht zustande. Oder umgekehrt: Weil bürgerschaftliches Engagement fehlt, entstehen innerstädtische Jammertäler. Ein Grund für die Missverhältnisse: Es fehlt an zugkräftigen Angeboten für Migranten. Denn es bekunden deutlich mehr befragte Migranten ihre Bereitschaft, sich zu engagieren, als es Aktive gibt. Ein klarer Auftrag an Non-Profit-Organisationen, Sportvereine und Selbsthilfegruppen, aktiv zu integrieren und sich freiwillig für Freiwillige mit Migrationshintergrund zu öffnen. „Bürgerschaftliches Engagement“, sagt der Meinungsforscher aus Marzahn, „ist ein Schlüssel für eine gelingende Integrationspolitik.“ Auch sonst durchlebt das Ehrenamt einen Wandel: Die jungen Alten ab 55 engagieren sich stärker als früher, weil sie länger aktiv bleiben und gebraucht werden wollen. Und es gibt immer mehr kurzfristiges Adhoc-Engagement á la „Essen an Heiligabend austeilen“ und weniger klassisches Dauerehrenamt, bei dem man sich langfristig an einen Träger bindet.

Auf die klassische Tour macht es Sven Klingelhöfer. Er kocht für die Johanniter-Unfall-Hilfe. Seit acht Jahren verpflegt der 26-Jährige die Sanitäter und Helfer bei Großeinsätzen etwa zum Kirchentag oder Katastrophen wie dem Elbe-Hochwasser. Einmal die Woche marschiert er nach Büroschluss zum Zugabend, vor den Kocheinsätzen, die oft über mehrere Tage gehen, muss er organisieren und einkaufen. Da muss das Versorgungsteam Küchenzelt und Bierzeltgarnituren aufbauen, Ein- oder Mehrkomponentenessen plus Veggi-Ausweichessen zaubern, alles reinigen, verpacken, wieder abbauen – viel harte Arbeit. Pro Woche kommt er auf zehn Stunden – ohne jemals Lohn dafür zu erhalten. „Der Dank ist meine Weiterbildung, da investieren die Johanniter ja in mich“, sagt Klingelhöfer, „und die Befriedigung meines Egos.“ Denn es mache ihn stolz, wenn es gelingt, beim Kirchentag 500 Sanitäter drei Mal täglich satt zu kriegen. Und Freundin Steffi hat er auch den Johannitern zu verdanken – sie haben sich bei einem Sanitätseinsatz kennen gelernt. Zusammen mit Mutti Ingrid und deren Mann, dem Bruder und dessen Freundin gehört sie jetzt zum Feldküchenteam. Hier hat ein Ehrenamtlicher die ganze Familie in sein Engagement einbezogen. Also auch im traditionellen  ehrenamtlichen Wirkbereich eine Zunahme? „Nein“, sagt Klingelhöfer, „in Anbetracht der vielen Sozialhilfeempfänger und Arbeitslosen in Berlin sind doch zu wenige engagiert. Dabei finden wir für jeden etwas, der sich einbringen will.“ Die klassischen Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen haben es schwer, kostenlose Arbeitskräfte für die vielfältigen sozialen Dienste zu bekommen, die keiner bezahlen kann oder will: Wehr- und damit auch Zivildienst werden immer kürzer, womöglich bald ganz abgeschafft. Und auch das Freiwillige Soziale Jahr kann jungen Menschen nicht überall als schmackhafte Alternative untergejubelt werden. Ehrenamtliche aber stellen Ansprüche. „Sie wollen ernst genommen werden“, sagt der 27-jährige Sozialwissenschaftler Reichmann, „es genügt eben nicht, Ehrennadeln zu verteilen, es muss eine institutionelle Öffnung spürbar sein.“ Es gehe um Teilhabe an politischen Prozessen. Denn während die jüngeren vor allem Gemeinschaft suchen, engagieren sich die älteren Ehrenamtlichen mit einem gesellschaftspolitischem Motiv: Sie wollen etwas verändern, auch wenn es nur im Kleinen ist. Einen angesichts der unendlichen Armut in Kaschmir geradezu winzigen Beitrag leisten, will auch Gabriele Ramm. Die Schauspielerin ist zurzeit als Elfriede Fennichfux im Schlosspark-Musical „Pinkelstadt“ zu sehen. Seit einem privaten Aufenthalt im Jahre 1998 engagiert sie sich für Mädchen in der moslemisch dominierten Kaschmirregion. Dazu veranstaltet sie regelmäßig Benefizkonzerte, bei der sie Theaterkollegen auf die Bühne und die Gäste zur Kasse bittet. „Die Armut, die hygienischen Verhältnisse, haben mich schockiert“, sagt Gabriele Ramm, „ich dachte: Du musst etwas tun.“ Weil sie den großen Hilfsorganisationen nicht zutraut, so gewissenhaft wie sie selbst mit den eingenommenen Spenden umzugehen, hat sie mit Freunden einen eigenen Mini-Verein gegründet, Inter-Educare e.V..  „Wir verschicken keine Spendenbriefe, machen keine Werbung, ich kann selbst dafür garantieren, dass das Geld auch ankommt“, sagt Ramm. Ihre Flüge nach Indien bezahlt sie aus der eigenen Tasche, alle Einnahmen gehen direkt in Projekte wie ein Waisenhaus oder eine Mädchenschule. Ihre Motivation? „Wenn ich in die Augen der Mädchen sehe, denen ich helfen konnte, dann ist das zugleich meine Gage und mein Applaus“, schwärmt Ramm. Akkurates Ehrenamtsregelement herrscht dagegen bei der Berliner AIDS-Hilfe. Freiwillige brauchen einen langen Atem, Adhoc-Engagement ist nur zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember möglich, wenn den Berlinern die Spendendosen unter die Nasen gehalten werden. Für alles andere ist der Vorlauf bis zum ersten Einsatz lang. Keiner kann kommen und sofort helfen. Am Anfang steht der Infoabend, da wird grob erklärt und ein „Bewerbungsbogen“ ausgefüllt. Dann lädt die AIDS-Hilfe zu zweistündigen Vorgesprächen ein. Darin wird überprüft, ob der Bewerber die psychische Stabilität für die schwierige Betreuungsarbeit mitbringt. Es folgt Basistraining, darin geht es einen Tag lang um medizinische Fragen rund um HIV und AIDS. Telefonberater und Begleiter erhalten darüber hinaus eine Schulung an zwei Wochenenden. „Wir haben zwei Verantwortungen“, sagt Markus Wickert, „den Ehrenamtlichen und den Klienten gegenüber – deshalb der lange Vorlauf.“ Wickert ist hauptamtlich für die Organisation der rund 220 ehrenamtlichen Mitarbeiter zuständig. Die Freiwilligen – von der Studentin bis zum Rentner ist alles dabei – wirken in allen Bereichen: Sie beraten im persönlichen Gespräch oder am Telefon, besuchen Patienten im Krankenhaus oder HIV-Positive im Knast, organisieren Adventsfeiern, AIDS-Galas und zwei mal in der Woche Frühstücke für Positive und ihre Freunde. „Wir kommen aus der Selbsthilfe und leben davon, dass hier Menschen ehrenamtlich mitarbeiten“, sagt Wickert und deshalb haben Ehrenamtliche hier auch Mitspracherechte und können Dinge beeinflussen. Das Interesse daran schwankt saisonal, „aber nach meinem Gefühl melden sich in letzter Zeit mehr Interessierte bei uns als früher.“ Marcus und seine neuen Freunde gehen nach der Bescherung in der Stadtmission noch einen echten Glühwein trinken. Sie haben ihr Soll an guten Taten für dieses Jahr erfüllt. Ob sie sich jetzt regelmäßig engagieren, weiß nur der Weihnachtsmann. Oliver Numrich

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