Es ist Mitte Dezember, als der Allergologe Professor Torsten Zuberbier die ersten Haselnussblüten in der Pollenfalle auf dem Dach der Charité findet: Viel zu früh! Schuld daran ist der warme Winter, der normalerweise dem Pollenflug ein Ende bereitet und den Menschen mit Heuschnupfen eine Verschnaufpause. Doch dank Erderwärmung geht der Blütenterror diesmal unvermindert weiter, schließt eine Saison an die andere an. Keiner sollte glauben, innerhalb der Betonburg Berlin sei man vor Pollen sicher. „Pollen können bis zu 20 Kilometer am Tag fliegen“, erklärt Professor Zuberbier, während er den Deckel wieder auf die Falle schraubt, „außerdem ist unsere Stadt zum Glück sehr grün.“
Seine Falle hat einen ordentlichen Fang gemacht: Pollen von Birken, Erlen, Eiben, Eichen, Weiden, Platanen, Hopfen, Lärchen, Pappeln, Ahorn und auch Gräser sind darunter. „Auffällig sind Gräserpollen schon im April“, sagt der Professor, „letztes Jahr wurden die bei uns erst Mitte Mai entdeckt.“ Nur ein bisschen Niessen – wird jetzt vielleicht jemand einwenden – bringt doch keinen um. Aber doch. Genau das tut es – langsam und sadistisch. Denn was einem Allergiker das Leben zur Hölle macht, ist nicht vereinzeltes Niessen und auch nicht der milde Spott seiner Umwelt. Es sind die weniger bekannten Begleiterscheinungen der chronischen Erkrankung: Etwa die permanente Kraftlosigkeit, weil der Körper sich ganz auf die Abwehr der vermeintlichen Angreifer konzentriert, ein stark juckender Gaumen, tränende, brennende Augen, eine ständig kribbelnde Nase, Kopfschmerzen und häufig in der Folge Konzentrationsschwierigkeiten oder einfach schlechte Laune.
Klar gibt es eine breite Palette an Medikamenten. Aber die meisten Pillen machen müde und trocknen die Schleimhäute aus. Die Entscheidung für eines der neuen Wundermittel, die angeblich nicht müde machen, ist vor allem eine Kostenfrage. Sie sind deutlich teurer – die Krankennkassen haben sich gänzlich aus der Finanzierung von Antihistaminen zurückgezogen. Weiterer Nachteil mancher Powerpillen: Sie verändern den Geschmackssinn und lassen eingenommene Speisen bitter schmecken. Mit den Tropfen ist das so eine Sache. Man soll sie dreimal täglich ins Auge träufeln. Nur wer macht das? Stattdessen kauft man irgendwann am Saisonanfang das teure Set mit dem Nasenspray, trägt das ewig mit sich rum und es natürlich erst rein, wenn die Augen bereits brennen wie Feuer. Leider wird dann der Wirkstoff gleich wieder ausgespült, es hilft nicht und also bleibt das Zeug in der Tasche bis es irgendwann die Banderole verliert und nicht mehr haltbar ist und zu Weihnachten, wenn man die Tasche für den Heimaturlaub umpackt, dann landet es im Müll. Kontaktlinsenträger sollten übrigens darauf achten, nur Augentropfen ohne Konservierungsstoffe zu verwenden, weil sie die Kontaktlinsen angreifen. Mit dem Nasenspray das gleiche: Der erste Schub in die Nase löst erstmal eine Niessattacke aus, mit der die teure Lösung gleich ins Taschentuch wandert. Erst beim wiederholten Einbringen kann das Medikament langsam wirken, wenn dann noch was zu machen ist.
Am billigsten und effektivsten kommt die gute alte Vermeidungstaktik. Jeder kennt die passiven Schutzmaßnahmen. Man darf sie nur nicht eins zu eins umsetzen, wenn man noch ein normales Leben führen will. Da wären die folgenden Regeln: Abends vor dem Zubettgehen die Haare waschen, Teppiche aus dem Schlafzimmer verbannen, Bettzeug und Matratzen in Plastikbezüge einpacken, täglich Staub saugen, die Kleidung und Schuhe außerhalb des Schlafzimmers lagern, niemals bei offenem Fenster schlafen oder Auto fahren, Extrafilter in den Staubsauger bauen, in jedem Raum einen Luftbefeuchter stellen und: abends die Nase duschen. Ja, es stimmt, nichts ist so befreiend wie die Anwendung einer Nasendusche, denn sie befeuchtet die von den Tabletten ausgetrockneten Nasenschleimhäute und spült zugleich alles Pollenmäßige raus. Aber nichts – das ist auch wahr – ist auch ein so widerlicher Anblick, wie warmes Salzwasser plus X, das in das eine Nasenloch rein und aus dem anderen heraus läuft. Damit wird man zuverlässig jeden Partner los. Sofern man als Allergiker überhaupt einen hat. Denn es ist nicht schön, neben jemandem zu leben, der im Sommer nicht rausgeht, dem ständig die Nase juckt und der mit seinen geschwollenen Äuglein nur verheult aussieht. Doch jedes Zugeständnis, jedes Abweichen von der Vermeidungsstrategie kann in den Hauptblütezeiten erhebliche Folgen haben. Und sagen sie nicht, sie hätten nichts gewusst! Wann was blüht kann von Blühtafeln und Allergie-Kalendern abgelesen oder im Internet zum Beispiel unter http://www.pollenstiftung.de nachgeguckt werden. Außerdem wird in Pollenvorhersagen auf den eher skurrilen Berliner Radiosendern gewarnt. Und hinterher liegt man wieder alleine auf dem Bett mit einem feuchten Waschlappen auf den rot gerieben Augen und stöhnt und hasst sich dafür, dass man gegen das bessere Wissen doch nach draußen gegangen ist, in die Sonne, mit dem Liebling im Park picknicken war oder ähnlich Stumpfsinn verzapfte hat. So etwas wie Park – das ist eiserne Regel – so etwas ist absolut tabu. Vermeidungsstrategie einhalten gilt auch für Nahrungsmittelallergiker, die nie mehr frische Erdbeeren oder Milch zu sich nehmen dürfen, oder kein Gluten, womit sie zu absoluten Freaks werden, die nur noch in Spezialabteilungen von Reformhäusern einkaufen können. Und sie gilt auch für Menschen mit einer Kontaktallergie etwa auf bestimmte Reinigungsmittel, Nickel-haltigen Billigschmuck oder Menschen mit Tierhaarallergien vom Pferd abwärts. Unbehandelte Allergien sind auf jeder Party ein tolles Gesprächsthema. Wenn man mit roten Augen und Nasen vor dem Klo steht, weil das am weitesten von Balkon entfernt ist, sorgt man für Unterhaltung. Denn jeder kann einen Ratschlag geben. Etwa den, dass man viel Calcium einnehmen solle, das gibt es ja in Form von Brausetabletten. Andere raten zu Zink. Dann heißt es wieder ein Löffel Blütenhonig am Morgen reiche vollkommen, vielleicht noch Vitamin C. Ein anderer kommt prima klar mit den Tropfen der Deutschen Homöopathie Union, wieder jemand hatte einen Sommer lang Ruhe dank Akupunktur. Nur in diesem Jahr will es einfach nicht zünden. Man kann das alles machen, es schadet vermutlich nicht. Aber es hilft eben meistens nicht.
Die einzige Alternative, die dauerhaft Abhilfe verschafft, ist der Versuch einer Desensibilisierung. Der kann scheitern, denn bei manchen schlägt sie nicht oder nur teilweise an. Das Problem mit der Desensibilisierung ist: Wenn man damit beginnen müsste, nämlich im Herbst, sind die Beschwerden grade abgeklungen. Und man denkt: „Ach, es ist vorbei, ein Glück. Und so schlimm war es ja nicht und bevor ich einmal die Woche zum Arzt renne, um mir eine unangenehme Spritze geben zu lassen, hoffe ich einfach darauf, dass es nächstes Jahr irgendwie besser wird.“ Schließlich gibt es gute Gründe, auf die wundersame Spontanheilung zu hoffen. Tatsächlich kennt jeder Allergiker Geschichten von Leuten, die von einem Jahr aufs andere gesundeten – ganz ohne mühsame Desensibilisierung. Aber sie sind selten. Viel häufiger ist der umgekehrte Fall, dass urplötzlich zuvor kerngesunde Menschen mittleren Alters auf einmal die Mega-Allergie haben mit Asthma und allem.
Dabei wird einem die Therapie immer leichter gemacht. Hypersensibilisierung funktioniert mittlerweile auch mit Tropfen oder Tabletten, die eingenommen werden statt gespritzt. Eine fachgerechte Diagnose ist eine wichtige Vorbedingung für eine vernünftige Behandlung. Denn nur, wenn genau diagnostiziert wurde, wogegen Allergien bestehen. „I failed the pricktest“ hätte auf meinem T-Shirt stehen sollen, als ich meinen Test machte: der Arm, auf dem die verschiedenen Testpollen aufgetragen wurden, war übersät mit Pusteln, als hätte ich ihn über Nacht in einen Mückenkäfig gehalten. Mit diesem Ergebnis war klar, dass ich niemals beschwerdefrei sein würde, denn die Hypersensibilisierung kann immer nur für ein paar Allergene zugleich durchgeführt werden und dauert jeweils ein paar Jahre. Und doch ist es einen Versuch wert, denn am Horizont winkt der so genannte Etagenwechsel, der aus einem kleinen Heuschnupfen nach Jahren der Nicht- oder Falschbehandlung leicht mal ein Asthmachen macht. Und das kann wirklich nerven. Immerhin ein Gutes hat es: Niemand freut sich so dermaßen über einen verregneten Sommer wie ein Allergiker. Wenn ein kräftiger, lang anhaltender Regen alle Pollen zu Boden reißt und in die Kanalisation spült, dann bin ich glücklich.
Bei einer erfolgreich therapierten Allergie sind die Nasenschleimhäute meist auch weiterhin stark angeschwollen. Der jahrelange, entzündliche Reiz hat dazu geführt, dass die so genannten Nasenmuscheln vergrößert sind. Hier kann eine neue, schonende Nasenoperation in lokaler Betäubung durchgeführt werden. Ich darf hierzu auf meinen Aufsatz auf meiner Homepage verweisen: http://www.drdewes.de/hnotherapie/nasenop/nasenop.html