Gisela Braun, 48, ist Diplompädagogin und Fachreferentin für die Prävention von sexuellem Missbrauch der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie hat mehrere Bücher zu dem Thema veröffentlicht, u. a. Elternratgeber und Kinderbücher wie „Das große und das kleine Nein“ oder „Ich sag’ nein“.
Oliver Numrich: Sexueller Missbrauch ist ein heißes Eisen. Fällt nicht vielen der Zugang zu dem Thema schwer?
Mittlerweile nicht mehr so sehr, denn es hat sich herumgesprochen, dass es verantwortlichen Kinderschutz bedeutet, wenn man sexuellen Missbrauch thematisiert. Es ist einfach so: Überall wo Kinder leben gibt es auch sexuellen Missbrauch. Jedes dritte bis vierte Mädchen ist davon betroffen und jeder neunte bis zwölfte Junge. Rein statistisch sind also in allen Kindergruppen Betroffene zu finden, egal ob in Kindergarten, Grundschule oder Verein.
Oliver Numrich: Warum sollten sich Jugendverbände wie die Johanniter-Jugend mit dem Thema beschäftigen?
Aus drei Gründen. Erstens weil es den Kindern signalisiert: Falls du betroffen bist, können und möchten wir dir helfen. Zweitens als Signal an die Öffentlichkeit: Wir kümmern uns um das Thema, wir sind bemüht, für Kinder einen sicheren Raum zu schaffen. Das ist ein Qualitätsmerkmal und nicht Ausdruck eines schlechten Gewissens. Und drittens als Signal an die Täter: Denn sehr viele, die sexuell an Kindern interessiert sind, gehen gezielt ins Ehrenamt, in Vereine und Verbände.
Oliver Numrich: Wie muss man sich die Täter vorstellen?
Der überwiegende Teil sind professionelle Pädagogen, Lehrer, Erzieher, Pfadfinderführer, Sporttrainer, Jugendgruppenleiter und so weiter. Wenn ein Verband Kinder- und Jugendarbeit im Ehrenamt macht, ist die Gefahr sehr groß, dass sich ein Täter dorthin wendet, wo er Vertrauen und Autorität genießt, wo er familiäre Strukturen vorfindet, die er nutzen kann. Die Johanniter sind ja eine große Familie.
Oliver Numrich: Wie aktuell ist das Thema?
Absolut aktuell – wir haben gerade in NRW mehrere Fälle innerhalb von Jugendverbänden aufgedeckt. Egal ob DRK, Landessportbund oder Johanniter – überall sind schon Fälle von sexuellem Missbrauchs durch Betreuer oder Verantwortliche vorgekommen.
Oliver Numrich: Aber was kann die JJ tun, wie setzt man diese Signale?
Indem man sich offensiv mit dem Thema auseinandersetzt: Broschüren erstellt, durch Fortbildungen die Betreuer sensibilisiert und Prävention mit Kinder- und Jugendgruppen macht. Es muss ein Hilfssystem innerhalb des Verbandes geben, mit Vertrauensleuten, die fortgebildet sind und Erfahrung haben, an die man sich wenden kann. Alle Kollegen müssen die Vorgehensweise kennen.
Oliver Numrich: Was ist die wichtigste Regel für Jugendgruppenleiter?
Was sie auf keinen Fall tun dürfen ist, mit den Eltern reden, wenn sie einen Verdacht haben. Das ist der größte Fehler. Denn sexueller Missbrauch kann auch in der Familie vorkommen. Eventuell wird dann der Täter gewarnt und nimmt das Kind aus der Gruppe heraus. Sie sollten auch auf keinen Fall alleine den Täter konfrontieren, denn natürlich streitet er alles ab. Meist sind die Täter Meister der Manipulation und können auch die Kollegen überzeugen: Das war ein Irrtum. Das betroffene Kind wird er wahrscheinlich bedrohen, so dass es aus Angst die Aussage zurückzieht. Und dann gibt es die falsche Bestätigung: Es ist ja nichts, das Kind hat gelogen. Und das betroffene Kind ist dann jahrlang gefangen, weil der eine Versuch fehlschlug.
Oliver Numrich: Wie kann man jüngeren Kindern dieses schwierige Thema vermitteln?
Man kann Kindern ganz klar sagen: Es kann passieren dass ein Erwachsener dich anfasst, dass er dich berührt, wie du es nicht magst. Das kann sogar ein Mensch sein, der dir lieb ist und dem du vertraust. Wenn so etwas passiert, ist es niemals deine Schuld. Auch wenn er sagt: ‚Du darfst darüber nicht reden’, darfst du das trotzdem. Das ist kein Petzen, sondern das ist ein ‚schlechtes Geheimnis’. Vertrau dich jemanden an, der dir helfen kann.
Oliver Numrich: Es gibt eine Vorstufe vor dem sexuellen Missbrauch…
Ja, den Bereich der sexuellen Übergriffe oder Grenzverletzungen. Das ist vielleicht kein bewusster Missbrauch, aber es verletzt die Intim- oder Privatsphäre. Das kann zum Beispiel beim Umkleiden nach dem Sport sein, wenn ein Erzieher in die Kabine platzt. Oder einem Mädchen auf den Popo klatschen, allgemeines Macho-Verhalten, Berührungen, wo man nicht genau weiß, ob die okay sind. Da kann man Kinder fragen: ‚Ist das okay für dich?’ Man kann seine Sympathie auch anders kundtun als mit Körperkontakt. Kinder haben das manchmal nicht so gern. Man sollte Kindern immer mit großem Respekt begegnen. Man hat als Erwachsener keinen Freibrief für Tätscheln und Küsschen geben.
Oliver Numrich: Wie kann man sexuelle Übergriffe von ganz normalen Körperkontakt zum Beispiel bei Gruppenspielen unterscheiden?
Manche Spiele muss man nicht machen. Ein Gruppenleiter muss davon ausgehen, dass in jeder Gruppe ein betroffenes Kind dabei ist und danach die Spiele auswählen. Generell sollte immer eine Atmosphäre in der Gruppe herrschen, in der jedes Kind weiß: Alles ist freiwillig. Ich sage immer: ‚Wir überlegen uns zusammen ein Spiel, wer möchte, kann mitmachen, wem das unangenehm ist, der nicht.’ Das Kind setzt die Regeln und für die Entscheidung des Kindes muss Respekt da sein. Man darf nicht zulassen, dass das Kind, das Nein sagt, als Zicke oder Spielverderber dasteht.
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