
Im Schritttempo bahnt sich der Rettungswagen seinen Weg über die löchrigen Betonplatten, die einzige befestigte Straße der Insel. Mit jedem Winterfrost kommen ein paar neue Schlaglöcher dazu, denen Rettungsassistent Frank Börner ausweichen muss. Zwar gibt es auf dem autofreien Eiland nur selten Gegenverkehr, hier eine Pferdekutsche, da ein Elektrokarren, aber dafür andere Hindernisse. „Die Touristen sind unser ärgster Feind“, witzelt Börner während er sie behutsam umkurvt, „sie sehen mich kommen und gehen mitten auf der Straße weiter.“ Deshalb arbeitet der 50-Jährige am liebsten im Frühling und im Herbst auf der Insel. Im Sommer sei einfach zu viel los. Und im Winter, tja, da sei es sehr einsam. Jetzt ist Sommer und im Ortskern von Vitte herrscht Hochbetrieb: vor den Souvenirläden werden Ansichtskarten und Strandutensilien verglichen, der Edeka-Markt und die Straßencafés sind voller Menschen in kurzen Hosen, es riecht nach Räucheraal und Pferdeäpfeln. Der Rettungswagen mit dem achtspitzigen Kreuz schiebt sich vorsichtig durch die Urlaubermassen und wird dabei argwöhnisch gemustert. Man braucht Geduld, um vom südlichen Hafen in Neuendorf durch Vitte bis nach Kloster zu kommen, wo das Rettungsfahrzeug stationiert ist. Auch wenn das Fahrzeug nur den Status eines Krankentransportwagens hat, sollte theoretisch jeder Punkt der Insel in zehn Minuten erreicht werden. Doch das erscheint unmöglich im Sommer angesichts der Enge. Auch das Martinshorn schaltet Börner nur äußerst ungern ein – es macht die Pferde scheu.
Die Inselfiliale der JUH ist in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Kloster untergebracht. Weil es den Johannitern an Fläche, Garage und

Desinfektionsstrecke fehlt, dürfen sie ihr Domizil nicht Rettungswache nennen und sagen stattdessen Rettungsstützpunkt. In einer Ecke des Wohnzimmers, das mit Schrankwand, Sofa und einem mannshohen Kühlschrank reichlich voll ist, hängt ein Plan der Insel, den die Sanitäter selbst gezeichnet haben. Er hilft bei der Orientierung, denn den Einsatzort schnell zu finden ist gar nicht so leicht: Häufig fehlen Straßenbezeichnungen und die Häuser sind einfach durchnummeriert. Einen Kollegen, den man zurate ziehen könnte, hat man hier nicht. Als das Telefon klingelt, meldet Börner sich mit „Hallo Leitstelle“, dann wiederholt er „keine Arbeit – na, das ist gut!“ Schließlich hatte er heute schon zwei Einsätze: Eine Urlauberin hatte einen Drehschwindel in Vitte während zeitgleich in Neuendorf einem Fußgänger das Bein von einem vorbei fahrenden Fahrradanhänger aufgerissen wurde. „Ich habe die Dame schnell beim Inselarzt ausgeladen und mich dann um die Verletzung gekümmert“, sagt Börner. Normalerweise ist Rettungsdienst Teamarbeit. Aber weil die Inselretter ihren Dienst alleine versehen, müssen sie häufig Umherstehende einbeziehen. An so einem ungewöhnlichen Arbeitsplatz wird Improvisieren eben groß geschrieben. „Man muss die Leute einschätzen können“, sagt Börner, „manchmal steht ein Arzt in der Nähe oder jemand, der erste Hilfe gelernt hat.“ Selbst bei einer Reanimation muss er einem Unbekannten den Beutel in die Hand drücken und ihm sagen, was er machen soll. „Manchmal trifft man auf auch Leute, die wissen, wie auf den Brustkorb zu drücken ist und dann beatmet man eben selbst.“ Nur die Trage bedient Börner allein. „Einen Uneingeweihten lasse ich da nicht ran, denn man muss verschiedene Hebel ziehen und rechtzeitig loslassen.“ Stattdessen hebt und senkt er Patienten in Etappen, vorne ein Stück hoch, zum Fußende laufen, hinten ein Stück hoch, dann wieder nach vorne. Stückchenweise geht es so für die Patienten nach oben und wieder runter. Auch beim Tragen bittet er Urlauber oder Angehörige um Hilfe. „Die erste Zeit hatte ich ein bisschen Bammel hier alleine auf der Insel“, gibt der besonnen wirkende Mann zu. Im Sommer haben sie hier vor allem Knochenbrüche zu versorgen, wenn jemand vom Pferd oder dem Fahrrad gefallen ist. Und auch die engen Stiegen, die in den kleinen Inselhäusern ins Obergeschoss führen, stellen ein hohes Unfallrisiko dar – besonders wenn Alkohol im Spiel ist. Der zweite Einsatzschwerpunkt sind innere Erkrankungen. „Die Jungen arbeiten doch alle auf der Insel“, sagt Börner und zeigt mit dem Daumen rüber in Richtung Rügen,

„die hier noch wohnen, das sind fast alles ältere Leute.“ Und so seien Krankheiten häufig, die mit dem Alter zunehmen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Diese Patienten müssen dann so schnell es geht ins Krankenhaus am Festland gebracht werden, per Hubschrauber oder, wenn die wegen Dunkelheit oder Sturm nicht mehr fliegen, mit Schnellboten, den Wassertaxis. Auf der Insel kommt es eben besonders darauf an, sich gut zu organisieren: Der Sanitäter muss den Patienten versorgen und gleichzeitig den Arzt rufen oder das Wassertaxi bestellen. Er muss die Patienten zum Hubschrauber fahren und irgendwie zwischendurch das Übergabeprotokoll schreiben. Dass sich Einsätze wie heute überlappen kommt selten vor, eher noch gibt es Tage, an dem gar nicht passiert. Damit die Zeit dann nicht lang wird, gibt es einen Wochenplan: Fahrzeug grundreinigen, vor allem vom vielen Sand, Einsatzkiste für Großschadensereignisse warten und Wohnung putzen. „Ich arbeite eben da, wo andere Urlaub machen“, sagt Börner und es klingt wie eine Antwort, die er sich zurechtgelegt hat, wenn ihm wieder mal dieselbe Frage gestellt wird. Aber ein bisschen Urlaubsgefühl strahlt auch auf ihn ab. Wenn alles erledigt ist auf der Station, dann, gibt der hauptamtliche Johanniter zu, dann könne man auch zur Ruhe kommen und in der Abgeschiedenheit der Insel zu sich finden. Aber eigentlich nur in der Nebensaison. Börner liest dann dicke Bücher und zwischendurch vertritt er sich die Beine: „Man muss hier auch mal raus, zum Konsum oder die Treppe zur Steilküste hoch und den Wind um die Nase wehen lassen.“ Wenn dann allerdings der Alarmierungs-Pieper summt, ist Schluss mit der Idylle und es geht im Laufschritt zurück. Oliver Numrich
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