
Was für die Engländer der 5-o’clock-Tea ist, das ist für die Deutschen die Kaffeetafel. In Berlin wird sie an jedem Wochenende pünktlich um drei Uhr nachmittags eingeläutet. Aber nicht nur in Steglitz und Wilmersdorf – gerade das junge Szenevolk von Kreuz- und Prenzlauer Berg hat den Kaffeeklatsch wiederentdeckt. Statt am heimischen Wohnzimmertisch Tanten und Nichten mit Bienenstich und Jacobs Krönung abzufüllen, trifft man Freunde in Coffelounges und nascht Lifestyle-Tartes an Tchai-Latte.
Nirgendwo im Herkunftsland des Cafe au lait gibt es so steife Milch wie in Deutschland. „Wenn der Schaum nicht mindestens zwei Zentimeter über den Tassenrand ragt, beschweren sich die Gäste“, stöhnt ein Gastronom, „versuch das mal in Frankreich zu kriegen!“ Mit Akkuratesse wird hier auch das Gebäck verzehrt. Jedes Wochenende dasselbe Spiel in den angesagten Coffelounges wie dem Kreuzberger Rubens, dem „Miss Marbles“ oder „Lass uns Freunde bleiben“ in Prenzlauer Berg. Schlag 15 Uhr erfolgt der Einmarsch der Kaffeetanten und Kuchenonkels. „Die Leute kommen ganz präzise um drei Uhr, so als hätten sie alle die Anweisung erhalten: Jetzt musst du Kuchen essen“, wundert sich Aviv Koriat, Backwarenverantwortlicher im Rubens. Selbst junge Menschen erscheinen so pünktlich, dass sie 20 oder 30 Minuten auf einen freien Platz warten müssen, weil natürlich alles belegt ist. „Warum kommen sie nicht um 10 oder 12 Uhr?“, fragt Aviv, der nicht versteht, dass nach dem Mittagessen und einer kurzen Schonfrist für den Magen nun mal Kaffee- und Kuchenzeit ist in Deutschland.
Um zehn kaut man hier höchstens an Knoppers. Aviv ist das Enfent terrible der Berliner Süßspeisenlandschaft, er ist kein Konditor, er ist künstlerischer Direktor, er ist Teilchenbeschleuniger. Der Sohn eines Marokkaners und einer Polin war Produktdesigner und Teilhaber einer erfolgreichen Werbeagentur in Tel Aviv, bevor er seiner Frau zuliebe nach Berlin umzog. Seinen außergewöhnlichen Geschmackssinn, den er selbst als „verry fusion“ bezeichnet, hat Aviv nicht nur der Herkunft der Eltern, sondern auch Oma Pnina zu verdanken. Sie überlebte den Holocaust, wanderte nach Israel aus und legte dort neben ihrem Haus einen Obstgarten an. Der Garten war der einzige Fleck, an dem die einsame und schwermütige Pnina ihren Kummer vergessen konnte. Jeden Tag kam der kleine Aviv zu Besuch und jeden Tag lernte er von ihr, an welcher Stelle der Zunge eine Frucht ihren Geschmack erzeugt und wie man sie am besten verarbeitet, um diesen Geschmack zu erhalten.
Heute kreiert Aviv die wunderlichsten Geschmackserlebnisse wie Blaubeer-Schokocreme-Torte, Chili-Schoko-Tarte oder orientalischen Orangenkuchen mit Kokos für die Kuchenvitrine des Rubens. „Die Vitrine ist mein Abenteuerspielplatz“, sagt er, „als Künstler hast du nicht das Privileg, dasselbe wieder und wieder zu machen.“ Die meisten Konditoren hätten keinen Spaß mehr an dem, was sie machten, glaubt Aviv, sie würden bloß die ganze Zeit wiederholen, was sie schon immer getan hätten. Deshalb verzichtet er ganz auf Rezeptbücher und arbeitet nur nach Augenmaß. „Ich bin hochkonzentriert und probiere die ganze Zeit, denn es soll nichts automatisch passieren.“ Was heraus kommt ist sehr von der Tagesform abhängig, kein Kuchen schmeckt gleich. „Manchmal bin ich traurig, mal happy, es hängt von der Musik ab und dem, was mir passiert ist und jedes Mal wird der Kuchen anders.“
Auch das Berlin-Gefühl, die krude Multikulti-Mischung, beeinflusst den Geschmack: arabische Ideen fließen ein, genau so wie britische und italienische. Nur die traditionellen deutschen Rezepte bleiben außen vor, denn danach backen ja sowieso fast alle. Einer, der einem tief verankerten Ritual folgend jeden Samstag aus dem fernen Frohnau ins Rubens fährt, ist Jurastudent Matthias. Sein Liebling ist eine recht einfache Käse-Kirsch-Variante mit weißer Schokolade. „Sie schmeckt besonders frisch, weil sie nur ganz kurz gebacken ist“, weiß der Experte.
Die Qualität der Zutaten ist ihm wichtig, auch dass es in einem Café mal was anders gibt als aufgetauten Apfelkuchen, aber den Preis behält er dennoch im Auge: „Wenn ich mir einmal die Woche was gönne, dann gucke ich nicht auf 20 Cent“, sagt der 27-Jährige, „aber 3,20 Euro finde ich zu teuer für ein Stückchen Obstsschnitte.“ Wenn die beste Freundin Melanie dazu stößt, wird in den bequemen weißen Sesseln abgehangen und über vorbei schlendernde Passanten gelästert, denn das gehört zu jedem Kaffeeklatsch. Die große Entfernung zum Wohnort entpuppt sich für Matthias als Riesenvorteil, weil keine Bekannten zuhören und nicht plötzlich Freunde auftauchen, die sich dazu setzen wollen.
Solche Runden bedürfen einer angemessenen Halb-Intimität, in der auch unangenehme Wahrheiten – vorzugsweise jene betreffend, die nicht anwesend sind – schonungslos offen gelegt werden können. Schließlich verleihen erst diese pikanten Details den exotischen Kuchen ihre besondere Würze… Matthias und Melanie teilen sich eine Probierplatte mit drei klebrigen Teilchen, Melanie schlürft dazu an einem Caramel-Macchiato und ein bisschen ist es so wie damals im Kindergarten, als man sich mit Milch und Süßigkeiten in die Kuschelecke zurückgezogen hat, um aus der schützenden Höhle die Welt mit etwas Sicherheitsabstand zu beobachten.
„Früher bin ich mit meinen Eltern immer sonntags zu den Großeltern gefahren“, erzählt Matthias, „wenn ich mich jetzt mit meinen Wahlverwandten zum Kaffee treffe, dann ist das ein Stück heile Welt für mich.“ Anders als die Freundin trinkt Matthias am liebsten Filterkaffee, „ich bin Anhänger der Benz-Methode“ sagt er, „weil man den Kaffee in großen Mengen trinken kann.“ Mit dieser Vorliebe steht er nicht allein da. Sabine Wentzel, Konditorin des Palladin an der Pallaststraße in Schöneberg bestätigt den Trend weg von den gepimpten Kaffeespezialitäten, die immer labbriger und süßer werden: „Die Leute haben die ganze Milch satt und freuen sich über einen stinknormalen Kaffee.“ Das Ende der perfekten Milchschaumhäubchen rückt näher. Nur die Lust auf Kaffeeklatsch wird wohl immer erhalten bleiben – in welcher Form auch immer. Und mal ganz ehrlich: Wer kann schon den Unterschied zwischen einem Latte Macchiato und einem Milchkaffee benennen, außer dass das eine im Glas und das andere in der Schale serviert wird?! Autor: Oliver Numrich
Bildnachweis: CC0 via pixabay.com
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