
Haben Sie eigentlich beim Essen Ihre fünf Sinne beisammen? Bitte die Frage nicht falsch verstehen, aber unsere Nahrung bietet mehr Dimensionen als nur den Geschmack und hat es verdient, dass wir sie bewusst betrachten, ertasten, riechen und sogar hören. Als durchschnittlicher Konsument würdigt man sein Essen höchstens zu besonderen Anlässen etwa im Sternelokal, bei der Weinverkostung oder wenn eine neue Sorte der Lieblingsschokolade angebrochen wird.

Aber wer aus beruflichen Gründen Geschmack und Qualität bewerten muss, der kommt heutzutage um eine Schulung seiner Sinne nicht herum. Die Akademie der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, kurz DLG, bietet ein derartiges Sensorik-Seminar für verschiedene Produktgruppen an, etwa zu Brot und Kleingebäck, Süßwaren, Frucht- und Erfrischungsgetränke oder Fleischerzeugnisse und Wurst sowie für bestimmte Zielgruppen wie Produktentwickler, Produkttester oder auch Einsteiger wie mich.
Grundlagen der Lebensmittel-Sensorik im DLG-Seminar
Im rheinhessischen Gau-Bickelheim bei Bad Kreuznach begrüßt Dozent Stephan Schöller die Teilnehmer in den Seminarräumen der DLG. Im weißen Laborkittel wirkt er wie ein Wissenschaftler, allerdings sprachgewandter, agiler. Wenngleich er darauf bedacht ist, durch das straffe Tagesprogramm zu kommen, merkt man ihm an, dass er bei jedem Thema und jeder Frage eines Teilnehmers mühelos tiefer in die Materie einsteigen könnte.
Wäre doch die Zeit nur nicht so begrenzt! Zunächst stellt Schöller in einem Überblicksvortrag die Grundlagen der Sinnesorgane vor und konfrontiert uns Teilnehmer mit verbreiteten Sinnestäuschungen und Fehlannahmen. Etwa der, dass wir ein Aroma schmecken können – denn tatsächlich wird es vor allem über den Geruchssinn ermittelt. Leicht zu überprüfen bei einer Erkältung mit verstopfter Nase. Oder dass nur auf bestimmten Arealen der Zunge bitter, sauer, salzig und süß erkannt würde, wie es oft auf schematischen Zeichnungen dargestellt wird. Die Geschmacksknospen seien in Wahrheit viel ungleichmäßiger auf der Zunge verteilt. Und zudem zählt man inzwischen auch umami als einen weiteren Geschmackseindruck für herzhaft und fleischig dazu. Höchst ernüchternd für Betroffene ist übrigens, dass die Zahl der Geschmacksknospen auf den Zungen der Menschen unterschiedlich groß ist und physiologisch bedingt deshalb manche Menschen schlechter „schmecken“ können als andere. Genetische Faktoren kommen noch verstärkend hinzu; so können Menschen afrikanischer Abstimmung häufig weniger gut Bitterstoffe erkennen. Leider werde ich zu einem späteren Zeitpunkt des Seminars noch feststellen müssen, dass mich dieses Phänomen ebenfalls betrifft…

Die menschliche Sinne sind stärker als man denkt
Gleich die ersten praktischen Übungen haben mich verblüfft, weil sie die verborgenen – oder besser gesagt verschütteten – Fähigkeiten offenbart, die des Menschen Sinne besitzen. Bei einer Rangfolgeübung ging es darum, nur mit Hilfe des Tastsinns acht unterschiedlich feste Gummizapfen nach Härtegraden zu sortieren, wobei diese sich nur minimal in ihrer Festigkeit voneinander unterschieden.
Zunächst erschien es mir wie eine unlösbare Aufgabe, weil sich alle Gummizapfen gleich anfühlten. Jedoch beim erneuten Durchtasten konnte ich tatsächlich gewisse Unterschiede feststellen und begann – immer noch stark zweifelnd – paarweise zu vergleichen und den weicheren Zapfen nach links, den härteren nach rechts zu stellen. Und siehe da: Als wenige Minuten später die Auflösung verkündet wurde, stellte sich meine Reihung – wie bei den meisten anderen Teilnehmern auch – als richtig heraus. Ich hätte es mir selbst zunächst nicht zugetraut, so genau fühlen zu können.
Auch das ist Sensorik: Gefärbtes Reagenzgläser nach Nuancen sortieren
Ähnliche Übung anderer Sinn: „Sortieren Sie diese zehn Reagenzgläser mit gelb gefärbtem Wasser entsprechend ihren Farbnuancen von hell nach dunkel!“ Die sind unterschiedlich? Ich konnte es nicht glauben: Die sehen doch alle total gleich aus! Aber in Wahrheit waren die verdünnten Farbstoffe in den verschlossenen Reagenzgläschen genauestens genormt und Teil eines Eignungstests: Nur wem die Reihung zu 60% gelingt, kann später Lebensmittelsachverständiger für die DLG werden. Ich wäre durchgefallen – keine Ahnung ob das an der Lichtsituation oder an meinen Sehfähigkeiten lag, aber außer den beiden hellsten und den beiden dunkelsten Röhrchen hatte ich fast nichts richtig eingeordnet.
Dann ein Höhepunkt des Tages: Die Schwellenwertprüfung in wässrigen Lösungen. Hier werden jedem Teilnehmer sechs Schnapsgläser gereicht, die mit Wasser und einem stark verdünnten Stoff versetzt sind. Nach rechts enthält jedes Gläschen etwas mehr der geschmacksbildenden Inhalts – auch das ist wieder streng genormt. Wir sollen nacheinander die Proben kosten und aufschreiben, was wir zu erkennen glauben. Spannend ist nun, ab welcher Konzentration jemand die Geschmacksrichtung erkennen kann. Auflösung: Die erste Probe enthielt ausschließlich Wasser, die folgenden Kochsalz in genau genormten festgelegten Mischungsverhältnissen, angefangen mit 0,2 Gramm pro Liter Wasser, dann 0,4 Gramm, 0,7 Gramm, 1 Gramm bis 1,6 Gramm pro Liter in der stärksten Mischung. Wer (wie ich) beim dritten Schnaps bereits die Geschmacksrichtung sicher erkennt, kann in Anspruch nehmen, gut salziges erschmecken zu können.
Die Normalbevölkerung kann es zwei Runden später, ab 1 Gramm pro Liter. Die nachfolgende Übung mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen in unterschiedlich hohen Dosen in einem Set aus sieben Schnapsgläsern zeigte mir jedoch, dass ich nicht alle Geschmäcker gleich gut feststellen kann: Meine Fähigkeit, Bitter zu erkennen, ist geschmälert – vermutlich nicht aufgrund afrikanischer Gene (meine Ahnen sind Friesen), sondern wegen meines hohen Kaffeekonsums. Von diesem wurde übrigens durch Herrn Schöller bis zum späten Nachmittag strengstens abgeraten, weil er sämtliche Geschmackstest erschweren wenn nicht verunmöglichen würde.
Abgesehen davon konnte ich im gesamten Gebäude auch keinen Kaffee aufspüren. Die wissen schon, warum… Ebenso wie Kaffee stehen bei einer Verkostung auch Knoblauch, Minze, Zimt, Lakritz oder gar Zigaretten auf der Liste der verbotenen Dinge, denn sie belegen die Geschmacksknospen der Zunge nachhaltig bzw. beeinträchtigen das Geschmacksempfinden. Gerade bei den flachen Wallpapillen, die auf der Zunge insbesondere für das Erschmecken von Bitterstoffen zuständig sind, funktioniert die Reinigung mittels der eingebauten Spüldrüsen nicht so schnell wie bei Blatt- oder Pilzpapillen. Wenn also mehrere Bitterstoffe enthaltene Produkte bewertet werden sollen, wie etwa Schokoladen, ist es ratsam, nach jedem Verkostungsschritt gründlich mit stillem Wasser zu spülen.

Bestandteil beim Sensorik-Seminar: Das 5-Punkte-Schema der DLG
Weitere Tests galten dem Erkennen von Geruchsproben durch die Teilnehmer (Schöller: „Die Nase hat ein besseres Gedächtnis als das Gehirn, sie erkennt den Geruch, aber unser Gehirn kann ihn nicht zuordnen oder in Worten ausdrücken“), bevor es nach einem opulenten Mittagessen um die verschiedenen Prüfmethoden und das besondere 5-Punkte-Schema der DLG ging. Dieses Schema wird auch bei der Vergabe der bekannten Gütesiegel angewendet, bei dem sensorisch einwandfreie Lebensmittel von hoher Qualität mit dem DLG-Siegel in Bronze, Silber oder Gold ausgezeichnet werden.
Zu allen Prüfmethoden wurde neben dem theoretischen auch ein praktischer Teil durchgeführt, bei dem die Teilnehmer separat Apfelsaft, Cracker, Würstchen sowie Kartoffelsalat verschiedener Hersteller und mit sensorischen Unterschieden verkosten mussten. Teilweise ging es bei den von Stephan Schöller und seiner Assistentin Judith Neuhaus aufwändig präparierten Proben um Nuancen – wie das unterschiedliche Zersplittern eines TUC-Crackers, wenn dieser bereits am Vortag aus der luftdichten Verpackung genommen wurde. (Weil er länger der Luftfeuchtigkeit ausgesetzt war, kracht er beim Zerbeißen nicht mehr so intensiv wie ein frisch der Packung entnommener. Ein Teilnehmer hat den unterschied tatsächlich erkannt.)
Die Teilnahme am Seminar wird mit einem Zertifikat von der DLG bescheinigt. Um als Tester zukünftig über die Vergabe der Auszeichnungen mitzubestimmen, reicht das allerdings noch nicht aus. Dafür müssen zusätzliche Schulungsmodule sowie eine Abschlussprüfung erfolgreich absolviert werden. Wann das nächste Sensorik-Seminar stattfindet, ist der Webseite der DLG-Akademie zu entnehmen.
Seit ich meine Ernährung umgestellt habe. sind meine Geschmackssinne auch deutlich feiner geworden